Hyperinsulinismus
| Klassifikation nach ICD-10 | |
|---|---|
| E16.1 | Hyperinsulinismus |
| E15 | iatrogener Hyperinsulinismus |
| ICD-10 online (WHO-Version 2019) | |
Der Hyperinsulinismus und die Hyperinsulinämie (früher auch: Harris-Syndrom oder Hyperinsulinie[1]) bezeichnen einen Zustand mit einer über das normale Maß hinausgehenden erhöhten Konzentration des Hormons Insulin im Blut.
Manchmal differenziert man begrifflich zwischen diesen beiden Fachwörtern. Dann versteht man unter der Hyperinsulinämie eine gegebenenfalls nur vereinzelt auftretende oder eine nur kurzzeitige Überschreitung der normalen Insulinkonzentration. Dagegen beschreibt dann der Hyperinsulinismus eine generelle oder anhaltende Überschreitung, also ein eher chronisches Phänomen.
Mechanismen
Verantwortlich für einen Hyperinsulinismus sind entweder eine Überproduktion der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) mit oder ohne Behinderung der Insulinwirkung oder aber eine Störung des Insulinabbaus. Die erstgenannte Ursache ist die häufigste, gegebenenfalls treten auch beide Ursachen kombiniert auf. Eine weitere Ursache ist die Überdosierung von Insulin.
Gründe für eine Insulinüberproduktion können einerseits eine Reaktion der Bauchspeicheldrüse auf eine gesteigerte Insulinresistenz sein (u. a. im Zusammenhang mit Störungen des Stoffwechsels wie dem metabolischen Syndrom, dem Diabetes mellitus Typ 2, dem polyzystischen Ovarialsyndrom oder dem Vitamin-D3-Mangel[2]) oder andererseits Tumore (Insulinome, Betazellkarzinome)[3] oder Inselzellhyperplasien der Bauchspeicheldrüse mit einer vermehrten Insulinproduktion. Letzteres tritt u. a. als genetisch bedingte Störung bei Neugeborenen und Kindern auf (→ kongenitaler Hyperinsulinismus).
Eine Hyperinsulinämie kann in jedem Alter entweder zeitweilig oder anhaltend auftreten (Hyperinsulinismus) und eine Hypoglykämie mit Schweißausbrüchen, schnellem Herzschlag, Kreislaufschwäche und Panikattacken verursachen. Werden diese Symptome nicht rechtzeitig erkannt und erfolgt keine Gegenregulation durch die Zufuhr von schnell verwertbaren Kohlenhydraten, dann kann es bei schweren Unterzuckerungen zum Bewusstseinsverlust und schließlich zum Tod kommen.
Auch können eine Adipositas und eine chronische Niereninsuffizienz mit einem Hyperinsulinismus assoziiert sein. Denn die Nieren sind an der Elimination des Insulins aus der Zirkulation beteiligt.[4]
Oft wurde eine Hyperinsulinämie als Ursache einer Fettsucht angeschuldet.[5] Man sprach von Hormonstörungen. Bei insulinproduzierenden Tumoren kann es wegen der exzessiven Insulinsekretion zu einer starken Gewichtszunahme kommen, da diese Patienten gezwungen sind, zusätzliche Kohlenhydrate zu sich zu nehmen.[6] Bei einer Hypoglykämie werden Hungerreize ausgelöst; deswegen spielt der Insulinspiegel eine wichtige Rolle bei der Gewichtszunahme.
Diagnose
Im Fall der Hypoglykämie sind Insulinspiegel über 3 μU/ml (µU/ml = mU/l = U/m³) abnormal, wenn der Glukosespiegel unter 50 mg/dl (2,8 mmol/l) liegt.
Bei einer Insulinresistenz sind nüchtern Insulinspiegel von über 20 μU/ml verdächtig, in schweren Resistenzfällen können Insulinspiegel über 100 μU/ml auftreten.
Nach anderen Angaben liegt der normale Insulinspiegel im Serum bei Nüchternheit bei einem Body Mass Index (BMI) von unter 25 kg/m² bei unter 13,5 mU/l beziehungsweise bei einem BMI von über 25 kg/m² bei unter 21,5 mU/l.[7] Nach einem anderen Tabellenwerk beträgt der Referenzbereich bei Insulin für Kinder und Erwachsene 6 bis 24 µU/ml und für Neugeborene 3 bis 20 µU/ml.[8]
Bei einem Insulinom sind die Serum-Insulinspiegel (nicht-supprimierbar) hoch bei gleichzeitig niedrigen Blutzuckerspiegeln. Zur Diagnostik eignet sich der Seruminsulin/Glucose-Quotient (abgekürzt I/G) während einer Hypoglykämie, nach einem (auf fünf Stunden) verlängerten oralen Glukosetoleranztest oder bei einem Hungerversuch in verschiedenen Varianten.[9][10] In einer Vergleichsstudie von 2017 lag beim Insulinom der I/G meist bei über 50 (pmol/l)/(mmol/l), während er bei Gesunden bei unter 20 (pmol/l)/(mmol/l) lag. So lassen sich Insulinome „biochemisch“ mit einer Sensitivität von > 86 % erkennen.[11] Dabei ist die atomare Masseneinheit von Insulin mit 5,8 Kilodalton zu berücksichtigen.
Formen
Primärer Hyperinsulinismus
- Eine vermehrte Insulinproduktion tritt bei einer diffusen oder folalen Inselzellhyperplasie auf, vor allem beim kongenitalen Hyperinsulinismus (Nesidioblastose) oder nach bariatrischer Chirurgie.
- Bei einem Insulinom der Langerhansschen Inseln kommt es zur Hypoglykämie.
Sekundärer Hyperinsulinismus
- Beim metabolischen Syndrom kommt es zur endogenen Insulinresistenz.
- Auch eine Überdosierung von Insulin oder von Sulfonylharnstoff führt zum Hyperinsulinismus.[12] Hier spricht man von der Hypoglycaemia factitia.[13] Es kann zum hypoglykämischen Schock kommen.[14]
Neugeborene
Ursachen eines Hyperinsulinismus bei Neugeborenen können sein:
- Diabetes mellitus der Mutter,
- eine schwere Erythroblastosis fetalis und
- ein Wiedemann-Beckwith-Syndrom.[15]
Außerdem ist an den kongenitalen Hyperinsulinismus zu denken.
Symptome
Folgen eines Hyperinsulinismus sind: Heißhunger, Erschlaffung, Tremor, Hitzegefühl, Schweißausbruch, Nausea, Kopfschmerz, Erbrechen, Parästhesien und Ohnmacht bis zu schweren zentralnervösen Störungen.[16]
Therapie
Die Behandlung des Hyperinsulinismus[17][18][19] richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache. Bei Betazelladenomen, Karzinomen oder Insulinomen kann eine chirurgische Intervention die Ursache beseitigen. Auch sind therapeutische Versuche mit Streptozotocin möglich.[20]
Geschichte
Dass eine spontane Hyperinsulinämie ein Grund für die Symptomatik der Hypoglykämie sein kann, wurde erstmals 1924 von Seale Harris senior (1870–1957; Internist in Birmingham (Alabama)) im Journal of the American Medical Association vorgeschlagen.[21][22]
Weblinks
- Portal für Eltern von Kindern mit Hyperinsulinismus des „Kongenitaler Hyperinsulinismus e. V.“
- Collaborative Alliance for Congenital Hyperinsulinism
Einzelnachweise
- ↑ Günter Thiele, Heinz Walter (Hrsg.): Reallexikon der Medizin und ihrer Grenzgebiete. Verlag Urban & Schwarzenberg, Loseblattsammlung 1966–1977, 3. Ordner (F–Hyperlysinämie), München / Berlin / Wien 1973, ISBN 3-541-84005-6, S. H 319.
- ↑ Morten Frost, Bo Abrahamsen, Tove Lise Nielsen, Claus Hagen, Marianne Andersen, Kim Brixen: Vitamin D status and PTH in young men: a cross-sectional study on associations with bone mineral density, body composition and glucose metabolism. PMID 20718769
- ↑ Allen Oldfather Whipple: Surgical therapy of hyperinsulinism. In: Journal international de chirurgie. Band 3, 1938, S. 237 ff.
- ↑ Joanne M. Bargman, Karl L. Skorecki: Chronische Niereninsuffizienz. In: Tinsley Randolph Harrison: Harrisons Innere Medizin. 20. Auflage, Georg Thieme Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-13-243524-7, 3. Band, S. 2636.
- ↑ Hellmut Mehnert, Harald Förster: Stoffwechselkrankheiten. Georg Thieme Verlag, 1. Auflage 1970, Stuttgart 1975, ISBN 3-13-460102-8, S. 117.
- ↑ Karl Dietrich Hepp: Stoffwechselerkrankungen und Endokrinologie. In: Praxis der Allgemeinmedizin. Band 15, Verlag Urban & Schwarzenberg, München / Wien / Baltimore 1986, ISBN 3-541-11131-3, S. 15.
- ↑ Bertin Dufaux, Michael Zimmer, Angelika Vogel, Dieter Münstermann: Labor Krone – Laboratoriumsuntersuchungen. 7. Auflage, Herford 2010, S. 431.
- ↑ Friedrich Carl Sitzmann: Normalwerte. 2. Auflage, Hans Marseille Verlag, München 1986, ISBN 3-88616-019-X, S. 124.
- ↑ F. John Service: Hypoglycemic disorders. In: The New England Journal of Medicine. Band 332. Nummer 17 vom 27. April 1995, S. 1144–1152. DOI:10.1056/NEJM199504273321707
- ↑ L. Schaaf, Klaus-Henning Usadel: Sonderformen der Hypoglykämie. In: Hellmut Mehnert, Eberhard Standl, Klaus-Henning Usadel, Hans-Ulrich Häring (Hrsg.): Diabetologie in Klinik und Praxis. 5. Auflage, Georg Thieme Verlag, ISBN 978-3-13-512805-4, S. 714.
- ↑ Xu Li, Feng Zhang, Haibing Chen, Haoyong Yu, Jian Zhou, Ming Li, Qing Li, Lianxi Li, Jun Yin, Fang Liu, Yuqian Bao, Junfeng Han, Weiping Jia: Diagnosis of insulinoma using the ratios of serum concentrations of insulin and C-peptide to glucose during a 5-hour oral glucose tolerance test. In: Endocrine Journal. Band 64, Nr. 1, 2017, S. 49–57.
- ↑ Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 269. Auflage, Verlag Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2023, ISBN 978-3-11-078334-6, S. 778.
- ↑ Reiner Jumpertz von Schwartzenberg, Joachim Spranger: Hypoglykämie. In: Tinsley Randolph Harrison: Harrisons Innere Medizin. 20. Auflage, Georg Thieme Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-13-243524-7, 4. Band, S. 3582.
- ↑ Roche Lexikon Medizin. 5. Auflage. Verlag Urban & Fischer, München / Jena 2003, ISBN 3-437-15156-8, S. 876.
- ↑ Das MSD Manual. 6. Auflage, Verlag Urban & Fischer, München / Jena 2000, ISBN 3-437-21760-7, Kapitel Hypoglykämie, S. 2612.
- ↑ Hans Freiherr von Kress: Müller-Seifert: Taschenbuch der Medizinisch-Klinischen Diagnostik, 67. Auflage, Verlag von J. F. Bergmann, München 1959, S. 625.
- ↑ Friedrich Bernhard: Erkennung und Behandlung des Hyperinsulinismus. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift. Band 74, Jahrgang 1949, S. 1048 ff.
- ↑ Wolfgang-Helmut Becker: Über die pathologisch-anatomischen Veränderungen bei dem Hyperinsulinismus und ihre chirurgische Bedeutung. In: Archiv für klinische Chirurgie. Band 261, Jahrgang 1949, S. 251 ff.
- ↑ Wolfgang-Helmut Becker: Über die Einwirkung des Hyperinsulinismus auf die Langerhansschen Inseln. In: Archiv für klinische Chirurgie, Band 275, Mai 1953, S. 337–340. doi:10.1007/BF01438621.
- ↑ Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin, 16. Auflage, Ullstein Medical, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-86126-126-1, S. 903.
- ↑ Seale Harris: Hyperinsulinism and disinsulinism. In: The Journal of the American Medical Association, 83. Jahrgang, Nummer 10, 6. September 1924, S. 729–733. doi:10.1001/jama.1924.02660100003002.
- ↑ Günter Thiele, Heinz Walter (Hrsg.): Reallexikon der Medizin und ihrer Grenzgebiete. Urban & Schwarzenberg, Loseblattsammlung 1966–1977, 3. Ordner (F–Hyperlysinämie), München / Berlin / Wien 1973, ISBN 3-541-84005-6, S. H 82.