Hungersnot in Bengalen 1943

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Die Hungersnot in Bengalen 1943 (bengalisch পঞ্চাশের মন্বন্তর) betraf die Präsidentschaft Bengalen im damaligen Britisch-Indien während des Zweiten Weltkrieges. Die Zahl der Hungertoten wird auf 1,5 bis 4 Millionen geschätzt.[1][2][3][4]
Ursachen
Die Hungersnot in Bengalen 1943 war die einzige Hungersnot in der modernen indischen Geschichte, die nicht auf eine schwere Dürre zurückzuführen war. Sie war vollständig auf ein Versagen der Politik zurückzuführen.[5] Der Politik des britischen Premierministers Winston Churchill wird eine entscheidende Verantwortung zugeschrieben.[6] Bengalen hatte 1942 eine reiche Ernte, doch die Briten begannen, riesige Mengen Getreide von Indien nach Großbritannien umzuleiten, was zu einer massiven Nahrungsmittelknappheit in den Gebieten des heutigen Westbengalen, Odisha, Bihar und Bangladesch beitrug.[4] Angesichts der Hungersnot verbot das Kriegskabinett von Winston Churchill den Zeitungen im britischen Imperium, die Worte „Hungersnot“ oder „verhungern“ zu verwenden - bis der Herausgeber der indischen Zeitung The Statesman die Zensur umging, indem er Pressefotos veröffentlichte, die unmissverständlich auf die Notlage verwiesen. Für schätzungsweise drei Millionen Menschen, die in der vermeidbaren Hungersnot starben, war es bereits zu spät.[7] Die Dokumentarfotografien von Sunil Janah (1918–2012), die ebenfalls im letzten Drittel des Jahres 1943 entstanden, ermöglichten einen würdevollen Blick auf die Darstellung der Opfern.[8]
Verschiedene Faktoren verschärften die Hungerkatastrophe. Zum anderen war nach dem Fall von Singapur die britische Kronkolonie Burma im März 1942 von den Japanern erobert worden, so dass die Reis-Importe, mit denen Bengalen zu Friedenszeiten zum Teil versorgt worden war, nicht mehr zur Verfügung standen. Vorräte in anderen Provinzen Britisch-Indiens wurden zum Teil aus eigennützigen Beweggründen nicht oder nur zögerlich nach Bengalen geliefert. Auch behinderte die Kriegslage den freien Nahrungsmitteltransport nach Bengalen.
Der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen verweist in seiner Untersuchung Poverty and Famines zu den Ursachen von Hungerkatastrophen, auf den Zusammenhang zwischen einerseits kriegsbedingter Inflation (der Krieg in Südostasien führte zu hohen Investitionsaufwendungen in militärische Infrastruktur, einem Zuwachs an Kaufkraft durch stationiertes Militärpersonal und einem Nachfrageschub für Lebensmittel in der näheren Peripherie) und andererseits saisonal in der Landwirtschaft beschäftigten Lohnarbeitern, welche die beschäftigungslose Zeit üblicherweise mit Ersparnissen überbrückte. Diese Ersparnisse wurden jedoch inflationsbedingt rasch entwertet, bei gleichzeitig rapide steigenden Lebensmittelpreisen. Sen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht der nur lokale (mißerntebedingte) Mangel an Lebensmitteln per se zu der Hungersnot führte, sondern tatsächlich erst der inflationsbedingte Rückgang der Kaufkraft (Hunger nicht die Folge des physischen Fehlens von Nahrungsmitteln (FAD – Food Availability Decline), sondern Folge eines Verfalls der Verfügungsrechte (FED)[9]). Nachdem keine Nachfrage (im ökonomischen Sinne) nach Lebensmitteln mehr entfaltet wurde, fanden auch keine Lebensmittellieferungen aus anderen Teilen Indiens nach Bengalen mehr statt, um das in Bengalen bestehende Lebensmitteldefizit auszugleichen. Diesen Mechanismus nicht zu erkennen, führte auf Regierungsseite zu der fatalen Fehleinschätzung, dass öffentliche Maßnahmen in Form von finanziellen Zuwendungen an die Hungernden (um ökonomische Nachfrage entfalten zu können) oder alternativ direkte Lebensmittelhilfe nicht notwendig seien. Es bleibt zu diskutieren, wie sehr diese ökonomische Ursache durch Fehler in der Kommunikation innerhalb des Regierungsapparats, durch bewusste Allokationsentscheidungen in der englischen Kriegswirtschaft und möglicherweise auch durch rassistische Tendenzen zusätzlich verschärft wurde.
Shashi Tharoor warf insbesondere dem damaligen britischen Premierminister Winston Churchill vor, sich gegenüber dem Elend in Bengalen gleichgültig gezeigt oder es sogar wissentlich in Kauf genommen zu haben. Während der Hungersnot sei es Churchills einziges Interesse gewesen, die gute Versorgung der britisch-indischen Armee und des britischen Mutterlandes sicherzustellen. Auf die dringende Bitte von Leopold Amery (Staatssekretär für Indien und Burma) und Archibald Wavell (Generalgouverneur und Vizekönig von Indien), Nahrungsmittelvorräte für Indien freizugeben, antwortete Churchill mit einem Telegramm, in dem er fragte, warum Gandhi noch nicht an Hunger gestorben sei.[4][10] Churchills feindselige Haltung gegenüber Indern wurde dokumentiert. Bei einer Sitzung des Kriegskabinetts machte er die Inder selbst für die Hungersnot verantwortlich und sagte, sie „vermehren sich wie die Karnickel“. Gegenüber Leopold Amery erklärte er: „Ich hasse Inder. Sie sind ein bestialisches Volk mit einer bestialischen Religion.“ Bei einer anderen Gelegenheit betonte er, sie seien „nach den Deutschen das bestialischste Volk der Welt“.[4][10]
Churchill verwies auf die vermeintlichen Wohltaten der britischen Kolonialherrschaft in Indien – Aussagen, die durch die visuellen Zeugnissen ins Absurde gezogen wurden. Im Oktober 1943, auf dem Höhepunkt der Hungersnot, sagte Churchill bei einem Bankett anlässlich Wavells Ernennung: „Diese Episode der indischen Geschichte wird mit der Zeit sicherlich zum Goldenen Zeitalter werden, als die Briten ihnen Frieden und Ordnung gaben, Gerechtigkeit für die Armen herrschte und alle Menschen vor äußeren Gefahren geschützt waren.“[10]
NS-Propaganda

Das nationalsozialistische Deutschland nutzte die Hungersnot gegen den britischen Kriegsgegner propagandistisch. Am 30. Oktober 1943 erkannte das Deutsche Reich die provisorische indische Exilregierung unter Subhash Chandra Bose an. Bei einem Empfang am 15. November 1943 im Berliner Hotel Kaiserhof protestierten indische Vertreter der Zentrale Freies Indien gegen den angeblichen „britischen Hungerkrieg in Indien“.[11]
Rückblick
Der spätere erste Ministerpräsident Indiens Jawaharlal Nehru schrieb 1946:
“The famine could have been avoided, given proper handling of the food situation in the earlier years of the war. […] The tragedy of Bengal and the famines in Orissa, Malabar and other places, are the final judgment on British rule in India. The British will certainly leave India and their Indian Empire will become a memory, but what will they leave when they have to go, what human degradation and accumulated sorrow?”
„Die Hungersnot hätte vermieden werden können, wenn eine angemessene Planung der Nahrungsmittelversorgung in den ersten Kriegsjahren erfolgt wäre. […] Die Tragödie Bengalens und die Hungersnöte in Orissa, Malabar und an anderen Orten bilden das endgültige Urteil über die britische Herrschaft über Indien. Die Briten werden sicher Indien verlassen und ihr indisches Reich wird dann Geschichte sein, aber was werden sie hinterlassen, wenn sie gehen müssen, wieviel menschliche Erniedrigung und angehäuftes Leid?“
Bereits in den Jahren 1876 bis 1878 war es nach Ernteausfällen im Hochland von Dekkan zu einer Hungersnot gekommen, bei der etwa acht Millionen Menschen starben.[13]
Nach der Unabhängigkeit gab es keine größeren Hungersnöte mehr.[5]
Literatur
- Cormac Ó Gráda: Eating People Is Wrong, and Other Essays on Famine, Its Past, and Its Future. Princeton University, Princeton 2015, ISBN 978-0-691-16535-6, S. 38–91.
- Joanna Simonow: Der Hungertod in Bildern. Fotografien in der öffentlichen Debatte um Hungerhilfe für Bengalen 1943, in: Zeithistorische Forschungen 18 (2021), S. 346–362.
Weblinks
- Bengal famine of 1943 – A Photographic History Part 1, Part 2, Historische Fotografien des Ereignisses auf oldindianphotos.in (englisch)
- 1943 Bengal Famine, kurzer Augenzeugenbericht bei BBC Witness (1. April 2015, englisch)
Einzelnachweise
- ↑ Schätzungen nach: Encyclopedia Britannica, 1992
- ↑ Amartya Sen: Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation. Oxford University Press, London 1981, ISBN 978-0-19-564954-3, S. 203.
- ↑ Joseph Lazzaro: Bengal Famine Of 1943 – A Man-Made Holocaust. International Business Times, 22. Februar 2013, abgerufen am 14. Oktober 2014 (englisch).
- ↑ a b c d Rakesh Krishnan Simha: Remembering India’s forgotten holocaust: British policies killed nearly 4 million Indians in the 1943–44 Bengal Famine. Tehelka.com, 13. Juni 2014, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 11. April 2015; abgerufen am 5. April 2015 (englisch).
- ↑ a b Bard Wilkinson: Churchill’s policies to blame for millions of Indian famine deaths, study says. In: CNN. 29. März 2019, abgerufen am 3. September 2025.
- ↑ Madhusree Mukerjee: Churchill's Secret War - The British Empire and the Ravaging of India during World War II. Chennai: Tranquebar Press, 2010. S. 24
- ↑ Alex de Waal (Executive director of the World Peace Foundation, Tufts University, Massachusetts): Those who cover up famine in Gaza use a familiar playbook. In: The Observer. 27. Juli 2025, abgerufen am 3. September 2025.
- ↑ Joanna Simonow: Der Hungertod in Bildern. Fotografien in der öffentlichen Debatte um Hungerhilfe für Bengalen 1943, in: Zeithistorische Forschungen 18 (2021), S. 346–362.]
- ↑ Hans-Georg Bohle, Thomas Gale: Vulnerabilitätskonzepte in Sozial- und Naturwissenschaften. In: Felgentreff, C. Glade, T. (Hrsg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Berlin, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8274-1571-4, S. 99–109 (Artikel Online [PDF; 1,4 MB; abgerufen am 29. April 2019]).
- ↑ a b c Shashi Tharoor: The Ugly Briton. Time Magazine, 29. November 2010, abgerufen am 5. April 2015 (Rezension des Buchs von Madhusree Mukerjee: Churchill’s Secret War).
- ↑ Horst Hano: Die Taktik der Pressepropaganda des Hitlerregimes, 1943–1945. Eine Untersuchung auf Grund unveröffentlichter Dokumente des Sicherheitsdienstes und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Freie Universität Berlin, Berlin 1963, S. 99.
- ↑ Jawaharlal Nehru: The Discovery of India. S. 499 (englisch); Textarchiv – Internet Archive
- ↑ Tim Dyson: A Population History of India. From the First Modern People to the Present Day. Oxford University Press, Oxford 2018, ISBN 978-0-19-882905-8, S. 137.