Hugo de Vries


Hugo Marie de Vries (* 16. Februar 1848 in Haarlem; † 21. Mai 1935 in Lunteren) war ein niederländischer Biologe und einer der Bestätiger bzw. Wiederentdecker der von Gregor Mendel aufgestellten Mendelschen Regeln. Mit seinen zwischen 1901 und 1903 erschienenen Schriften zur Mutationstheorie gab er der Evolutionsforschung neue Impulse. Sein offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „de Vries“.
Die Forschungsschwerpunkte von de Vries lagen in experimenteller Pflanzenphysiologie und Evolutionsforschung. Er beschäftigte sich mit der Atmung der Pflanzen, mit insekteninduzierter Gallenbildung und über viele Jahre hinweg mit Osmose. Damit legte er die Basis für die Disziplingründung der Physikochemie.
Leben
De Vries entstammte einer angesehenen holländischen Familie. Sein Vater Gerrit de Vries war Justizminister unter Wilhelm III.; seine Mutter Maria Ereardina war die Tochter von Caspar Reuvens, dem ersten Professor für Archäologie an der Universität Leiden.
De Vries zeigte sehr früh eine große Leidenschaft für Botanik, sodass er bereits zu Beginn seines Biologiestudiums 1866 ein vollständiges Herbarium der niederländischen Flora besaß. Die Universität Leiden, an der er studierte, war zu diesem Zeitpunkt eher auf Pflanzenmorphologie ausgerichtet, während de Vries sich bereits zu diesem Zeitpunkt für physiologische Pflanzenuntersuchungen interessierte. Um dieses Defizit auszugleichen, errichtete er in seinem Elternhaus ein entsprechendes Laboratorium. Seine Schrift De invloed der temperatuur op de levensverschijnselen der planten (Über den Einfluss der Temperatur auf die Lebenserscheinungen der Pflanzen) von 1870, hatte physiologische Untersuchungen zum Thema.
An seine Promotion schloss sich ein kurzes Aufbaustudium in Heidelberg bei dem Botaniker Wilhelm Hofmeister und ein Aufenthalt bei Julius Sachs, dem Begründer der experimentellen Pflanzenphysiologie in Würzburg, an. Aus finanziellen Gründen nahm er dann eine Stelle als Lehrer für Naturgeschichte in Amsterdam an und verbrachte in den folgenden Jahren nur die lehrfreie Zeit im Sommer bei Sachs. Dieser verschaffte ihm 1875 ein zweijähriges Stipendium in Würzburg, währenddessen er unter anderem über die Osmose in Pflanzenzellen forschte. Seine Forschungsarbeit Über die mechanischen Ursachen der Zellstreckung wurde als Habilitationsschrift anerkannt. Nachdem er kurze Zeit als Lektor für Pflanzenphysiologie an der neu gegründeten Universität Amsterdam gelehrt hatte, wurde er 1878 dort zum außerordentlichen Professor für Pflanzenphysiologie berufen. 1881 wurde er ordentlicher Professor, und in dieser Stellung blieb er bis zu seiner Emeritierung 1918. Von 1885 bis 1918 war er zudem Direktor des Botanischen Gartens Amsterdam.
Werk
Pflanzenphysiologie
De Vries war zunächst lange Zeit auf dem neuen Gebiet der experimentellen Pflanzenphysiologie tätig, wobei er sich besonders mit der Osmose bei Pflanzen befasste. Es war bekannt, dass sich bei Pflanzenzellen unter der Einwirkung von Salzlösungen der Protoplast zusammenzieht und von der Zellwand ablöst (Plasmolyse). De Vries stellte fest, dass die Zelle dabei nicht abstirbt und der Prozess reversibel ist. Dabei entwickelte er die Vorstellung, dass der Protoplast von einer semipermeablen Membran umgeben ist, die Wasser durchlässt, aber die meisten gelösten Stoffe nicht.[1]
Mendelsche Regeln
De Vries veröffentlichte seine „Neuentdeckung“ der Mendelschen Regeln in drei Arbeiten im Jahr 1900, zuerst in einer Note für die Pariser Akademie, vorgetragen am 26. März.[2] Darin erwähnt er Mendel nicht, sondern erst in einer danach erschienenen französischen Arbeit[3] und einer deutschsprachigen Veröffentlichung.[4] In der französischen Arbeit schrieb de Vries, dass Mendels schöne Arbeit wenig bekannt und vergessen war und dass er selbst die wesentlichen Entdeckungen schon 1886 gefunden hatte, bevor er von Mendels Arbeit Kenntnis erhielt. Seine Erinnerungen, wie er auf Mendel aufmerksam wurde (über ein Buch von Liberty Hyde Bailey über Pflanzenzucht von 1895), sind aber fehlerhaft. Sein Nachfolger Theodoor Jan Stomps[5] erzählte später, dass De Vries einen der Preprints von Mendel von 1865 aus dem Besitz von Martinus Willem Beijerinck sah, kurz bevor er 1900 seine Ergebnisse veröffentlichte. Das war zwischen Juli 1899 und März 1900.
Hier setzte auch Kritik an dem Anspruch der unabhängigen Wiederentdeckung durch de Vries an (Conway Zirkle 1968[6], Malcolm J. Kottler 1979[7], Margaret Campbell 1980[8]), wonach er vor 1900 keine klare Konzeptualisierung der -Werte in der Form 3:1 hatte (Spaltungsregel) und damit auch keine Interpretation im Mendelschen Sinn (das geschah in seinen Schriften erst ab 1900). Zur gleichen Schlussfolgerung kamen Alain Corcos und Floyd Monaghan.[9][10]
Der Aufsatz in den Comptes rendus war auch die Quelle, aus der William Bateson in England auf die wiederentdeckten Mendelschen Gesetze aufmerksam wurde.
Auszeichnungen und Ehrungen
1902 wurde er Socio Straniero der Accademia Nazionale dei Lincei in Rom, 1904 Mitglied der National Academy of Sciences und der Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique.[11] 1905 wurde er als Foreign Member in die Royal Society gewählt, die ihm 1906 die Darwin-Medaille verlieh. 1910 wurde er Ehrenmitglied (Honorary Fellow) der Royal Society of Edinburgh.[12] 1913 wurde er in die Académie des sciences in Paris und 1921 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1929 erhielt er die Linné-Medaille. Seit 1900 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen[13] und seit 1913 der Preußischen Akademie der Wissenschaften.[14] 1924 wurde er korrespondierendes und 1932 Ehrenmitglied der damaligen Sowjetischen Akademie der Wissenschaften.[15] 1933 wurde er zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt.[16]
1970 wurde der Mondkrater De Vries nach ihm benannt.[17]
Schriften (Auswahl)
Bücher
- De invloed der temperatuur op de levensverschijnselen der planten. Nijhoff, Den Haag 1870 (Digitalisat).
- Untersuchungen über die mechanischen Ursachen der Zellstreckung, ausgehend von der Einwirkung von Salzlösungen auf den Turgor wachsender Pflanzenzellen. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1877 (Digitalisat) – Habilitationsschrift.
- Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich. 2 Bände, Veit & Comp., Leipzig 1901–1903 (Band 1, Band 2).
- The mutation theory. Experiments and observations on the origin of species in the vegetable kingdom. 2 Bände, Chicago 1909–1910 (Band 1, Band 2) – übersetzt von John Bretland Farmer und Arthur Dukinfield Darbishire (1879–1915).
- Die Mutationen und die Mutationsperioden bei der Entstehung der Arten. Vortrag, gehalten in der allgemeinen Sitzung der Naturwissenschaftlichen Hauptgruppe der Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Hamburg am 26. September 1901. Veit & Comp., Leipzig 1901.
- Kurzfassung in: Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte […] Theil 1 Die allgemeinen Sitzungen […]. 1901, S. 1–13.
- Befruchtung und Bastardierung. Vortrag gehalten in der 151. Jahresversammlung der Holländischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Haarlem am 16. Mai 1903. Veit & Comp., Leipzig 1903 (Digitalisat).
- Fécondation et hybridité. In: Archives néerlandaises des sciences exactes et naturelles. 2. Folge, Band 8, 1903, S. viii–xxiii.
- = Opera e periodicis collata. Band 6, A. Oosthoek, Utrecht 1920, S. 339–353 (Digitalisat).
- Fécondation et hybridité. In: Archives néerlandaises des sciences exactes et naturelles. 2. Folge, Band 8, 1903, S. viii–xxiii.
- Intracellulare pangenesis. Gustav Fischer, Jena 1889 (Digitalisat).
- Intracellular pangenesis, including a paper on fertilization and hybridization. Chicago 1910 (Digitalisat) – übersetzt von Charles Stuart Gager (1872–1943).
Zeitschriftenbeiträge
- Erfelijke monstrositeiten in den ruilhandel der botanische tuinen. In: Botanisch Jaarboek. Band 9, 1897, S. 62–79 (Digitalisat).
- Hybridizing monstrosities. In: Journal of the Royal Horticultural Society. Band 24, 1900, S. 69–75 (Digitalisat).
- Das Spaltungsgesetz der Bastarde (Vorläufige Mitteilung). In: Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft. Band 18, Nr. 3, 1900 S. 83–90 (Digitalisat).
- Sur la loi de disjonction des hybrides. Comptes rendus de l’Académie des sciences. Band 130, 1900, S. 845–847 (Digitalisat).
- Sur les unités des caractères spécifiques et leur application à l’étude des hybrides. In: Revue générale de botanique. Band 12, 1900, S. 257–271 (Digitalisat).
Literatur
- Alain F. Corcos, Floyd V. Monaghan: Mendel’s work and its rediscovery: A new perspectiv. In: Critical Reviews in Plant Sciences. Band 9, Nr. 3, 1990, S. 197–212 (doi:10.1080/07352689009382287).
- Werner Sohn: Hugo de Vries. In: Ilse Jahn, Michael Schmitt (Hrsg.): Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits. Beck, München 2001, ISBN 3-406-44639-6, Bd. 2, S. 9–27.
- Petrus Henricus Wilhelmus Adrianus Maria de Veer: Leven en werk van Hugo de Vries. Wolters-Noordhoff, Groningen 1969 (PDF).
- Staffan Müller-Wille: Vries, Hugo de. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 27, Duncker & Humblot, Berlin 2020, ISBN 978-3-428-11208-1, S. 142–144 (Digitalisat).
Einzelnachweise
- ↑ Werner Sohn: Hugo de Vries. In: Ilse Jahn, Michael Schmitt (Hrsg.): Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits. Beck, München 2001, ISBN 3-406-44639-6, Bd. 2, S. 13–15.
- ↑ De Vries: Sur la loi de disjonction des hybrides, Comptes Rendus Acad. Sci., Band 130, 1900, S. 845–847
- ↑ De Vries, Sur les unités des caractéres spécifiques et leur application à l'étude des hybrides, La Revue Générale de Botanique, Band 12, 1900, S. 257–271, datiert 19. März 1900
- ↑ De Vries, Das Spaltungsgesetz der Bastarde, Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft, Band 18, 1900, S. 83–90
- ↑ Theodoor Jan Stomps: On the rediscovery of Mendel’s work by Hugo de Vries. In: Journal of Herdity. Band 45, Nr. 6, 1954, S. 293–294 (doi:10.1093/oxfordjournals.jhered.a106498).
- ↑ Conway Zirkle: The role of Liberty Hyde Bailey and Hugo de Vries in the rediscovery of Mendelism. In: Journal of the History of Biology. Band 1, Nr. 2, 1968, S. 205–218 (doi:10.1007/BF00351920, JSTOR:4330495).
- ↑ Malcolm J. Kottler: Hugo de Vries and the rediscovery of Mendel’s laws. In Annals of Science. Band 36, Nr. 5, 1979, S. 517–538 (doi:10.1080/00033797900200351).
- ↑ Margaret Campbell: Did de Vries discover the law of segregation independently? In: Annals of Science. Band 37, Nr. 6, 1980, S. 639–655 (doi:10.1080/00033798000200441).
- ↑ Alain F. Corcos, Floyd V. Monaghan: Role of de Vries in the recovery of Mendel’s work I. Was de Vries really an independent discoverer of Mendel? In: Journal of Heredity. Band 76, Nr. 3, 1985, S. 187–190 (doi:10.1093/oxfordjournals.jhered.a110062).
- ↑ Alain F. Corcos, Floyd V. Monaghan: Role of de Vries in the rediscovery of Mendel’s paper II. Did de Vries really understand Mendel’s paper? In: Journal of Heredity. Band 78, Nr. 4, 1987, S. 275–276 (doi:10.1093/oxfordjournals.jhered.a110383).
- ↑ Académicien décédé: Hugo De Vries. Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique, abgerufen am 6. September 2023 (französisch).
- ↑ Fellows Directory. Biographical Index: Former RSE Fellows 1783–2002 (K–Z). (PDF-Datei) Royal Society of Edinburgh, abgerufen am 19. April 2020.
- ↑ Mitgliedseintrag von Hugo de Vries bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 23. Januar 2017.
- ↑ Mitglieder der Vorgängerakademien. Hugo de Vries. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 16. Februar 2015.
- ↑ Ausländische Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften seit 1724. Hugo de Vries. Russische Akademie der Wissenschaften, abgerufen am 24. August 2015 (englisch).
- ↑ Mitgliederverzeichnis Leopoldina, Hugo de Vries
- ↑ de Vries (Mondkrater) im Gazetteer of Planetary Nomenclature der IAU (WGPSN) / USGS
Weblinks
- Literatur von und über Hugo de Vries im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Autoreneintrag für Hugo de Vries beim IPNI