Helge Pross

Helge Agnes Pross, geborene Nyssen (* 14. Juli 1927 in Düsseldorf; † 2. Oktober 1984 in Gießen), war eine deutsche Soziologin und Pionierin der Geschlechterforschung.
Leben

Helge Nyssen kam als zweite Tochter von Robert Nyssen und seiner Ehefrau Gertrud zur Welt. Wenige Wochen vor der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 wurde sie zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Dafür verließ sie das Gymnasium ohne ein formelles Reifezeugnis. Der Wunsch zu studieren führte sie zurück zur Schule, wo sie – nach einem Sonderlehrgang – im April 1946 das Abitur ablegte.
Noch im Mai desselben Jahres nahm sie an der Ruprecht-Carl-Universität in Heidelberg ein Studium in den Fächern Soziologie, Geschichte, Staatslehre und deutsche Literaturgeschichte auf. Nebenher machte sie erste journalistische Erfahrungen durch Veröffentlichungen in Studentenzeitschriften.[1]
1950 beendete Helge Pross ihr Studium mit einer Promotion über soziale Ideen Bettina von Arnims.[2] Sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt zunächst als freie Journalistin. 1952 ging sie mit einem Reise- und Forschungsstipendium für zwei Jahre in die USA. In den 1950er Jahren arbeitete sie als Assistentin bei Max Horkheimer und später bei Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main. Sie habilitierte sich 1963 mit einer Schrift zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht.[3]
Von 1965 bis 1976 lehrte sie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und war dort Mitgründerin des Seminars für Soziologie.
Helge Pross lehrte als Professorin von 1976 bis 1984 an der Universität-Gesamthochschule-Siegen Soziologie. Auf ihre Initiative wurde dort 1977 das Forschungsinstitut für Geistes- und Sozialwissenschaften (figs) gegründet.
Helge Pross war in erster Ehe (1950–1954) mit dem Sozialwissenschaftler Harry Pross verheiratet, in zweiter Ehe (seit 1972) mit dem Soziologen und Sozialpolitiker Karl W. Boetticher.[4]
Wirken
Helge Pross hat in ihrem Berufsleben in unterschiedlichen Themenbereichen geforscht. Dabei hat sie ihre wissenschaftliche Arbeit immer mit journalistischen Aktivitäten begleitet, um die Ergebnisse ihrer Forschungen der Öffentlichkeit bekannt und verständlich zu machen.
Während ihres zweijährigen USA-Aufenthalts beschäftigt sie sich intensiv mit der Emigrationsthematik. Die Ergebnisse veröffentlicht sie in der Monographie „Die deutsche akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933 - 1941“.[5]
Im Anschluss an ihre Rückkehr nach Deutschland arbeitet sie am Frankfurter Institut für Sozialforschung in Lehre und Forschung, veröffentlicht parallel in Fachzeitschriften, tritt über Interviews und Vorträge im In- und Ausland an die Öffentlichkeit. Hierfür wird sie 1963 mit dem Kurt-Magnus-Förderpreis ausgezeichnet. In ihrer Habilitationsschrift setzt sie sich mit dem Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht auseinander. Sie weist darin die Bedeutung des Vordringens kapitalloser Funktionäre (Manager) für eine demokratische Gesellschaftsordnung und ihre Stabilität in den 60er Jahren in Westdeutschland nach.
In 1965 wird Helge Pross als Professorin für Soziologie an die Justus-Liebig-Universität in Gießen berufen. Hier beginnt sie ihre vielfältigen Forschungen zur Geschlechterthematik. Sie sammelt Daten für ihre erste große Studie zu "Frauenfragen". Diese Studie erscheint 1969 unter dem Titel "Über Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik". Innovativ für die damalige soziologische Forschung ist, dass Helge Pross ihrer Untersuchung die Kategorie "Geschlecht" zu Grunde legt. In Zusammenarbeit mit der Zeitschrift BRIGITTE, für die sie regelmäßig Kolumnen schreibt, erscheint 1973 ihre zweite große Studie: "Gleichberechtigung im Beruf? Eine Untersuchung mit 7000 Arbeitnehmerinnen in der EWG". In dieser Studie dokumentiert sie, wie sich die soziale Ungleichheit im Berufsleben bzw. in der "außerhäuslichen Arbeit" von Frauen fortsetzt: Ansiedelung auf den unteren Positionen, weniger Fortbildungschancen, geringeres Einkommen, Doppelbelastung und Brüche in der Erwerbstätigkeit aufgrund der Familienarbeit, Teilzeitarbeit, geringere Aufstiegsmöglichkeiten, Abdrängung in so genannte "weibliche" Branchen.
In ihrer dritten Studie von 1975 wendet sie sich den "Nur-Hausfrauen" zu. Damit gibt sie einer der größten Frauengruppen in Westdeutschland eine Stimme, und zwar zu einer Zeit, in der Hausarbeit mit Geringschätzung betrachtet wird. Demgegenüber stellt Helge Pross fest, dass der Arbeitsaufwand von Hausfrauen ebenso gewertschätzt werden sollte wie die bezahlte Erwerbsarbeit.
In ihrer Giessener Zeit engagiert sich Helge Pross neben ihren Forschungen wiederum intensiv sowohl in der Selbstverwaltung der Universität als auch in öffentlichen Auftritten. Eine Vortragsreise im Jahr 1970 durch Südafrika verursacht einen massiven Konflikt mit der Studentenschaft der Universität und Teilen ihrer eigenen Fakultät.[6] Diese sich weiter verschlechternde Situation führt dazu, dass Helge Pross 1976 den Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Siegen annimmt.
In den kommenden Jahren erweitert sie ihre wissenschaftliche Perspektive, indem sie Selbstbilder von Männern und deren Bilder von Frauen untersucht. In dieser Studie, die 1978 unter dem Titel "Die Männer" erscheint, macht sie deutlich, dass Frauenfragen in Beziehung zu Männerfragen stehen. Da die von der Frauenemanzipation hervorgerufenen Veränderungen die Strukturen der Familie berühren, berühren sie auch die Lebenssituation der Männer.
Im Herbst 1983 beginnt Helge Pross ein Jahr als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Hier beschäftigt sie sich intensiv mit Vorbereitungsarbeiten und Konzeption des Sonderhefts "Soziologie der Frau" der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, das sie zusammen mit Hartmann Tyrell herausgeben will. Wegen ihrer schweren Erkrankung kann sie diese Arbeit nicht beenden.[7]
Mit ihrem Forschungsinteresse an Frauen- und Männerfragen und den daraus resultierenden Erkenntnissen erscheint es nahe liegend, dass Helge Pross in direktem Kontakt zur Frauenbewegung gestanden hätte. Tatsächlich hielt sie sich davon fern, wobei sie als Journalistin gelegentlich die politischen Aktionen der neuen Feministinnen kritisierte. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse flossen in die feministischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre ein, ohne dass sich Helge Pross daran direkt beteiligte.
Über ihre wissenschaftliche Tätigkeit hinaus hat sich Helge Pross verschiedentlich auch für öffentliche Aufgaben zur Verfügung gestellt. So gehörte sie von 1969 bis 1972 der Eherechtskommission beim Bundesjustizministerium und von 1974 bis 1976 der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Frau und Gesellschaft" an. Von 1977 bis 1981 war sie Präsidiumsmitglied des Goethe-Institutes. Ab 1972 war sie Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland.[8]
Pross gehörte dem Kuratorium der 1957 gegründeten Deutsch-Israelischen Studiengruppe an der Freien Universität Berlin an.[9] Die studentische Vereinigung setzte sich für die NS-Aufarbeitung, gegen den Antisemitismus und für die Annäherung mit Israel ein.
Seit 1984 ist der Nachlass von Helge Pross im Besitz der Universitätsbibliothek Siegen. Mitte der 1990er Jahre wurde er erschlossen und durch ein Findbuch dokumentiert.[10] Im April 2010 wurde der Nachlass ins Universitätsarchiv Siegen überführt.
Helge-Pross-Preis
Das Forschungsinstitut für Geistes- und Sozialwissenschaften (figs) der Universität Siegen verleiht seit 1994 den mit 5000 € dotierten Helge-Pross-Preis an Wissenschaftler für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Familien- und Geschlechterforschung.
Zitat
„Eine Demokratie, in der die größere Hälfte der Bevölkerung weder in den Parlamenten noch in den Regierungen angemessen vertreten ist, ist bloß eine Demokratie am Anfang.“
Auszeichnungen
- 1963: Kurt-Magnus-Preis[11][12]
- 1976: Deutscher Sachbuchpreis[11]
- Straßenbenennung Helge-Pross-Straße in Wallenhorst, Ortsteil Rulle[13]
Werke (Auswahl)
Von Helge Nyssen
- Zur Soziologie der Romantik und des vormarxistischen Sozialismus in Deutschland. Bettine von Arnims soziale Ideen. Diss. Heidelberg 1950.
Von Helge Pross
- Die deutsche akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933–1941. Duncker & Humblot, Berlin 1955.
- Über die Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969.
- Manager des Kapitalismus. Untersuchung über leitende Angestellte in Grossunternehmen (zusammen mit Karl W. Boetticher). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971.
- Kapitalismus und Demokratie. Studien über westdeutsche Sozialstrukturen. Athenäum-Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 1972, ISBN 3-8072-4013-6.
- Die Wirklichkeit der Hausfrau. Die erste repräsentative Untersuchung über nichterwerbstätige Ehefrauen: Wie leben sie? Wie denken sie? Wie sehen sie sich selbst? Rowohlt, Reinbek 1975.
- Die Männer. Eine repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau. Rowohlt, Reinbek 1978, ISBN 3-498-05232-2.
- Was ist heute deutsch? Wertorientierungen in der Bundesrepublik. Rowohlt, Reinbek 1982, ISBN 3-498-05242-X.
- Der Geist der Unternehmer. 100 Jahre Vorwerk & Co. Düsseldorf 1983, ISBN 3-546-47589-5.
- Soziologie der Masse (hrsg. mit Eugen Buss in Zusammenarbeit mit Alois Heinemann). Quelle und Meyer (UTB), Heidelberg 1984.
Literatur
- Roswitha Theis: Partizipation und Demokratie. Die Soziologie von Helge Pross. Frankfurt a. M. 1989. ISBN 3-631-41637-7
- Evelyn Tegeler: Frauenfragen sind Männerfragen. Leverkusen 2002. ISBN 3-8100-3601-3.
- Sabine Hering: Helge Pross: Wegbereiterin der Frauenforschung: Biographisches aus dem Nachlass, Siegen: universi – Universitätsverlag Siegen 2019, ISBN 978-3-96182-018-4.
Weblinks
- Literatur von und über Helge Pross im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Eine Pionierin der Geschlechterforschung: Helge Pross. In: WDR ZeitZeichen vom 2. Oktober 2024 (ARD Mediathek). Abgerufen am 5. November 2024.
- Bundeszentrale für Politische Bildung: Helge Pross
- Pross, Helge. Hessische Biografie. (Stand: 28. November 2023). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Einzelnachweise
- ↑ Sabine Hering, Elke Hüwel: Helge Pross: Wegbereiterin der Frauenforschung: Biographisches aus dem Nachlass. universi - Universitätsverlag Siegen, Siegen 2019, ISBN 978-3-96182-018-4.
- ↑ Dissertation Helge Nyssen, Katalog der Deutschen Nationalbibliothek. Abgerufen am 6. September 2025.
- ↑ Habilitationsschrift Helge Pross: Manager und Aktionäre in Deutschland. Abgerufen am 6. September 2025.
- ↑ Helge Pross: Hessische Biografie : Erweiterte Suche : LAGIS Hessen. Abgerufen am 6. September 2025.
- ↑ Evelyn Tegeler: Frauenfragen sind Männerfragen. 2003, doi:10.1007/978-3-322-97573-7.
- ↑ D. I. E. ZEIT (Archiv): Die Infamie der Wahrheit. In: Die Zeit. 3. März 1967, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 13. September 2025]).
- ↑ Sabine Hering, Elke Hüwel: Helge Pross: Wegbereiterin der Frauenforschung: Biographisches aus dem Nachlass. universi - Universitätsverlag Siegen, Siegen 2019, ISBN 978-3-96182-018-4.
- ↑ Munzinger – Wissen, das zählt. Abgerufen am 13. September 2025.
- ↑ Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025, S. 89.
- ↑ Sabine Hering (Hrsg.): Findbuch – Der Bestand des Helge-Pross-Nachlasses. Siegen 1996.
- ↑ a b Redaktionsbüro Harenberg: Knaurs Prominentenlexikon 1980. Die persönlichen Daten der Prominenz aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Mit über 400 Fotos. Droemer Knaur, München/Zürich 1979, ISBN 3-426-07604-7, Pross, Helge, S. 356.
- ↑ Kurt-Magnus-Preise erstmals vergeben. In: ard.de. Archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 8. Dezember 2022; abgerufen am 11. August 2025.
- ↑ Helge-Pross-Straße in 49134 Wallenhorst Rulle. Abgerufen am 6. September 2025.