Höranalyse
Höranalyse (Hörerziehung) ist ein musikpädagogischer Fachbegriff, der in dem Fach Gehörbildung seit einigen Jahrzehnten benutzt wird.[1]
Eigentlich setzt jedes hörende Verstehen eine Höranalyse voraus. Insofern gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem Hören von Sprache und dem Hören von Musik. Die Kognitionspsychologie ist inzwischen in der Lage, den Wahrnehmungsvorgang zu beschreiben und die dabei vorgenommenen Kategorisierungen zu benennen. Bei der Höranalyse von gesprochener Sprache geschieht beispielsweise eine grammatische Analyse, die entweder intuitiv oder auf einer bewusst reflektierten Ebene vorgenommen wird.
Im musikpädagogischen Fach Gehörbildung wird Letzteres thematisiert. Höranalyse kann hier beispielsweise die formale Analyse oder die Frage nach der Besetzung betreffen. In beiden Fällen ist dies als eine auditive und nicht als eine visuelle Analyse zu verstehen. Letztere steht nach dem Verständnis einiger Theoretiker im Mittelpunkt der Musiktheorie.
Im Gegensatz zu manchen kleinteiligen Übungen eines konservativen Unterrichts in Gehörbildung, der beispielsweise das Hören einzelner Intervalle als Ausgangspunkt wählt, fragt die Höranalyse nach größeren Zusammenhängen, die weit jenseits des musikalischen „Einzelbuchstabens“ oder jenseits der Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegen. Im Regelfall kann für die Höranalyse nicht die klassische Notenschrift benutzt werden, da diese zunächst von dem Detail jeder einzelnen Note ausgeht. Die ganzheitlichen Höranalysemethoden wurden erstmals 1956 von Siegfried Borris beschrieben. Borris forderte in diesen Aufsätzen eine von der klassischen Gehörbildung grundverschiedene Unterrichtsmethode, die er Hörerziehung nannte.[2] Ein sehr anschauliches Beispiel der Höranalyse stammt von Reiner Wehinger, der die Komposition Artikulation (1958) von [György Ligeti] auditiv analysierte und mithilfe einer grafischen Notation auf fantasievolle Weise mit eigens dafür geschaffenen Farben und Symbolen darstellte.[3] Der Komponist hatte diese Komposition nicht in visueller Form vorgelegt. Die bei YouTube verfügbare Version ermöglicht ein sehr differenziertes Nachvollziehen von Wehingers Arbeit.[4] Die in diesem Beispiel dargestellte Form der Höranalyse ist hochkomplex und macht deutlich, dass ein solches Hörprotokoll für sämtliche auditiv wahrgenommenen akustischen Erscheinungen möglich ist. Die Darstellung kann dann – wie in diesem Falle – anhand einer exakten Timeline geschehen oder mithilfe eines frei formulierten Textes oder auf grafische Weise, auch ohne Verwendung einer Timeline. Im Regelfall wird eine Höranalyse einfacher aussehen als bei Wehinger, insbesondere wenn in der Komposition konventionelle Gestaltungsmerkmale oder formal bekannte Muster vorliegen. Dies alles war in Ligetis Komposition, ebenso wie in manch anderen akustischen Kunstwerken, nicht gegeben.
Der Diskurs über die Definition und die Methoden der Höranalyse ist noch nicht abgeschlossen und findet inzwischen auch im Vergleich mit Konzepten statt, die außerhalb der deutschsprachigen Musiktheorie entwickelt wurden.[5]
Einzelnachweise
- ↑ Siehe z. B. Ulrich Kaiser: Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen. Grundkurs (= Bärenreiter Studienbücher Musik. Band 10), Bärenreiter, Kassel 1998, ISBN 3-7618-1159-4 und ders.: Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen. Aufbaukurs. Mit einem Formkapitel von [Hartmut Fladt] (= Bärenreiter Studienbücher Musik. Band 11). Bärenreiter, Kassel 1998, ISBN 3-7618-1160-8.
- ↑ Siegfried Borris: Methodischer Aufbau einer ganzheitlichen Hörerziehung. In: Musik im Unterricht. 47, 1956, S. 272–274 und ders.: Ganzheitliche Hörerziehung. In: Musik im Unterricht. 47, 1956, S. 264–266.
- ↑ György Ligeti (1923 – 2006) Artikulation (1958) Eine Hörpartitur Realisiert im Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks Köln, Schott 1994.
- ↑ YouTube-Version von Wehingers Arbeit
- ↑ Lutz Felbick: Das methodisch-didaktische Konzept des argentinischen Lehrbuchs ›Analisis Auditivo de la Música‹ im Vergleich zu europäischen Höranalyse-Werken. In: Ralf Kubicek (Hrsg.): Musiktheorie und Vermittlung. Didaktik, Ästhetik, Satzlehre, Analyse, Improvisation. (= Paraphrasen – Weimarer Beiträge zur Musiktheorie. Band 2). Hildesheim, Olms 2014, ISBN 978-3-487-15134-2, S. 201–217, doi: 10.31751/p.119.
Literatur
- Florian Edler: Höranalyse als Zugang zu Neuer Musik. Perspektiven und Grenzen. In: Markus Roth, Matthias Schlothfeldt (Hrsg.): Musiktheorie und Komposition. XII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie Essen 2012 (= Folkwang Studien. Band 15). Olms, Hildesheim 2015, ISBN 978-3-487-15231-8, S. 233–242.
- Sylvia Färber: Oper in Gehörbildung. In: Musiktheorie. 16, Nr. 4, 2001, ISSN 0177-4182, S. 370–376.
- Christine Klein: Höranalyse als Weg zum musikalischen Verstehen? – Versuch einer Annäherung unter Berücksichtigung musikhistorischer, -ästhetischer, -soziologischer und -psychologischer Aspekte. In: Reinhard Bahr, Jan Philipp Sprick, Michael von Troschke (Hrsg.): Musiktheorie im Kontext. 5. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie Hamburg 2005. Weidler, Berlin 2008, ISBN 978-3-89693-515-1, S. 49–61.
- Benjamin Lang: Höranalyse zeitgenössischer Musik – Wege zum kreativen Hören? In: Benjamin Lang (Hrsg.): Ganz Ohr? Neue Musik in der Gehörbildung. ConBrio, Regensburg 2013, ISBN 978-3-940768-39-1, S. 91–155.
- Lutz Felbick: Das Wunder des Hörens: Reflexionen zu einem musikalischen, wissenschaftlichen und spirituellen Thema. LIT Verlag, Münster 2024, ISBN 978-3-643-15338-8. Auszüge bei Google Books