Graduale von St. Katharinenthal

Das Graduale von St. Katharinenthal ist ein Graduale, das um 1312 für das Dominikanerinnenkloster St. Katharinental bei Diessenhofen erstellt wurde und die Gesänge enthält, die die Nonnen in den Gottesdiensten anstimmten.
Es befindet sich unter der Signatur LM 26117 abwechselnd im Schweizerischen Landesmuseum Zürich und im Museum des Kantons Thurgau in Frauenfeld befindet.
Das Graduale von St. Katharinenthal ist neben dem Codex Manesse wohl das bedeutendste gotische Buchkunstwerk der Schweiz.[1] (Bisweilen wird das Dominikanerinnen-Graduale vom Oberrhein, das sich unter der Signatur Hs 21897 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg befindet, in der Literatur ebenfalls als Graduale von St. Katharinenthal bezeichnet.)
Geschichte
Um 1230 siedelte eine kleine Gemeinschaft von Beginen von Winterthur nach Diessenhofen über, wo der dort tätige Priester die Errichtung eines Frauenklosters plante. 1242 zogen sie in das seither so genannte St. Katharinental am Rhein außerhalb der Stadt, um dort das Kloster zu errichten. Grund und Boden stiftete Graf Hartmann IV. von Kyburg. 1245 wurde das Kloster durch Papst Innozenz IV. in den Dominikanerorden inkorporiert; die Seelsorge oblag dem Dominikanerkonvent von Konstanz. 25 Jahre später weihte Albertus Magnus die Altäre des Klosters. Im Jahr 1305 wurde der Chor des Konvents neu erbaut, wobei dann Statuen von Johannes dem Täufer und des Evangelisten Johannes aufgestellt wurden. Dass der Kult dieser beiden Johannes' eine bedeutende Rolle spielte, ist auch im Graduale zu erkennen.[2]
Das Graduale stammt ebenfalls aus dieser Zeit: 1312 steht auf dem vorderen Vorsatzblatt geschrieben, jedoch in einer Hand des 15. Jahrhunderts,[3] so dass diese Jahresangabe mit etwas Vorsicht zu interpretieren ist. Die Handschrift kam spätestens 1821 in den Besitz des Konstanzers Antiquars Franz Joseph Aloys Castell. Wohl wenig später entfernte dieser f. 87a, welches Blatt er in Einzelteile zerlegte; ein Fragment wurde 1852 von Freiherr Hans von und zu Aufsess an das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg übergeben. Weitere Fragmente tauchen erst im 20. Jahrhundert im Raum Frankfurt auf. Castell entfernte später auch f. 158a, welches Blatt vermutlich 6 Miniaturen aufwies. Die jetzt bekannten Fragmente liegen zerstreut in Zürich (4), Frankfurt (3), Nürnberg (1), Wien (1) und in Privatbesitz (1).[4] Das letzte Blatt, f. 315, dürfte als Folge der Benutzung abhandengekommen sein, wie das öfters bei Schlussblättern der Fall ist.
Der Codex selbst erscheint im Jahr 1906 im Sammlungskatalog von Sir William Amhurst Tyssen Amherst, 1908 wurde er bei Sotheby’s in London versteigert und kam in den Besitz von Sir Charles Dyson Perrins in Worchester. Nach seinem Tode wurde das Graduale am 9. Dezember 1958 erneut versteigert[5][6] ‒ und wurde zum Preis von 33,000 Pfund bzw. 403,000 Schweizer Franken gemeinsamer Besitz des Landesmuseums und des Kantons Thurgau; der Beitrag des Landesmuseums betrug 178,000 Fr., der des Kantons Thurgau belief sich auf 150,000 Fr. und die Gottfried-Keller-Stiftung übernahm einen Anteil von 75,000 Franken am Kaufpreis.
Beschreibung

Das Generalkapitel des Dominikanerordens von 1244 gab Arbeiten zu einer vereinheitlichten Liturgie in Auftrag, die schließlich von Humbertus de Romanis (* um 1200; † 14. Juli 1277) in seinem zwischen 1254 und 1256 zusammengestellten Werk Ecclesiasticum officium secundum ordinem fratrum praedicatorum festgelegt und 1267 von Papst Clemens IV. bestätigt worden ist.[7] Das Graduale von St. Katharinenthal entspricht weitgehend diesem Standard.
Der Codex
Auf ein Blatt mit kalendarischen Angaben folgen 626 Seiten mit lateinischen Gesängen. Den Buchblock bilden 314 Blätter aus mittelstarkem Pergament im Format von 47,5 bis 48,5 cm in der Höhe und 34,5 bis 35 cm in der Breite. a Als Grundform für die insgesamt 30 Lagen kam das Sextern, d. h. eine aus 6 Doppelblättern bestehende Lage zur Anwendung; allerdings gibt es auch einzelne Abweichungen. In neuerer Zeit sind die Blätter auf der Rectoseite oben rechts mit einer Bleistiftfolierung in arabischen Ziffern versehen worden. Die Maße des mit Zirkelstichen abgestochenen Schriftspiegels betragen 31,5 auf 20,5 cm. Pro Seite gibt es neun Notenzeilen mit unterlegtem Text; eine Anordnung, die nur gelegentlich durchbrochen wird, wenn Textincipits in kleinerer Schrift eingefügt sind.[8]
Die Handschrift unterscheidet sich von anderen zeitgleichen Gradualen unter anderem durch ihr großes Format und ihren großen Umfang. Dies resultiert in einem Gesamtgewicht von 13 kg.[9]
Mit Ausnahme von Anmerkungen auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern sowie Einschüben und Nachträgen am Ende des Buches sowie der meisten marginalen Ergänzungen scheint der Codex bis einschließlich f. 298v von einer einzigen Hand geschrieben zu sein. Der Schreiber verwendet die Buchschrift Textura. Die Melodien der Gesänge sind in gotischer Quadratnotation aufgezeichnet.[8] Am Rest des Codex (f. 299r bis f. 314v) scheinen bis zu 10 verschiedene Schreiber mitgewirkt zu haben.[10]
Das Graduale teilt mit anderen liturgischen Büchern die innere Organisation nach dem Kirchenjahr. Dabei werden die Eigentexte für die Wochen- und Sonntage des Jahreskreises im Proprium de Tempore (Temporale) zusammengefasst, jene für immer am selben Tag begangene Heiligenfeste im Proprium de Sanctis (Sanctorale) und im Commune Sanctorum für Heiligengedenktage, die kein oder wenig Eigengut aufweisen. Es folgt ein Kyriale. Den Schluss bildet ein Sequentiar mit insgesamt 47 Sequenzen. Daneben gibt es auch anlassbezogene Texte, z. B. Aspersionsantiphonen, ein Kirchweihoffizium, Votivmessen.
Die Handschrift enthält insgesamt, ohne Berücksichtigung von Versus und Alleluias, über 1100 Gesänge mit Noten.
Der Codex zeigt zwar Gebrauchsspuren, ist aber ansonsten relativ gut erhalten. Es gibt nur wenige Anmerkungen aus späteren Jahrhunderten. Allerdings gibt es kleinere Unregelmäßigkeiten. So wurde zum Teil Pergament mit einem Loch verwendet oder eins mit einem Riss, der zusammengenäht wurde.
Die erste Initiale eines Officiums ist in der Regel in Blau oder Rot gestaltet, jedoch ohne einen konsequenten Blau-Rot-Farbwechsel und manche Initialen fehlen. Manchmal reichte der Platz nicht, so dass eine Zeile über den Schriftraum hinausragt, z. B. auf f. 8r. Auf manchen Blättern finden sich Nachträge, vermutlich aus späterer Zeit. Beispielsweise wurde auf f. 190r ein Alleluia am Rand nachgetragen usw. Interessant ist ein Eintrag aus späterer Zeit auf f. 36v, wo zur Rubrik Officium Sabatto am Rand erläutert wird: Disi Mess ist am Fritag und Samstag. Ähnlich gelagerte Fälle gibt es auf ff. 128v, 131r, 171v, 305v. Auf dem unteren Seitenrand von f. 162v, fortgesetzt auf dem oberen Rand von f. 163r wurden die Textanfänge von Introitus, Graduale, Offertorium und Communio der Messen für Thome epi., Silvester pp., Felicis ps. Mauri ab. Marcelli pp. & m. und S. Prisce vgs. & mt., Sct. Fabiani & Sebastiani nachgetragen. Auf f. 310r fehlen in einer Zeile die Noten.
Inhalt
| f. 1rv | 2 Kalendertafeln |
| f. 2r–3r | Doxologie (Gloria patri … Sicut erat) in den acht Psalmtönen |
| f. 3rv | Aspersionsantiphonen |
| f. 3v–151v | Proprium de Tempore |
| f. 151v–153v | Kirchweihoffizium |
| f. 153v–155r | Sequenz Psalle Christo laudes prece |
| f. 155rv | Nachträge der gleichen Hand |
| f. 156r–198r | Proprium des Sanctis |
| f. 198r–231r | Commune Sanctorum |
| f. 231r–235r | Votivmessen |
| f. 235r–248r | Kyriale |
| f. 248r–314v | Sequentiar, mit Einschüben und Nachträgen auf f. 299r–308v |
| Hinterer Spiegel | Nachträge zum Proprium des Sanctis |
Die Kommission des Humbertus de Romanis hatte die relativ große Zahl von 27 Sequenzen in den Prototyp aufgenommen, die alle, wenn auch in anderer Reihenfolge und zum Teil mit anderer Melodie, im Graduale von St. Katharinenthal enthalten sind. Das Graduale enthält jedoch weitere 20 Sequenzen, die nicht dem Standardrepertoire von 1256 angehören. Hierbei fällt die Sequenz Jesu Christi Dei fili auf, für die bisher das Graduale von St. Katharinenthal als einzige Quelle nachgewiesen werden konnte.[11] Das Graduale von St. Katharinenthal weicht an zahlreichen Stellen vom Standard ab, sei es in einzelnen Wörtern, Noten oder fehlenden Teilen, beispielsweise einem fehlenden Amen.[12]
Buchschmuck
Initialen
Das Graduale enthält insgesamt 72 historisierte Miniaturen, b gemalt in Tempera über Goldgrund, dazu noch mindestens 4 Miniaturen auf den Blättern 87a und 158a, die herausgetrennt wurden, und 16 große Prachtinitialen. c Es könnte sein, dass die Nonne Katharina von Radegg, die zu nicht weniger als zu neun Miniaturen in kleiner Schrift am Rand erwähnt ist, „vielleicht die hauptsächliche Illuminatorin“ gewesen ist.[13]
| Proprium de tempore | |
|---|---|
| f. 3v: A[d te levavi] | Adventsbild |
| f. 13v: M[emento nostri domine] | Priester und Leviten befragen Johannes den Täufer |
| f. 16r: D[ominus dixit] | Bileams Vision des Jakobssterns |
| f. 18v: P[uer nobis natus est] | Geburt Christi und Verkündigung an die Hirten |
| f. 21r: E[cce advenit dominator] | Taufe Christi |
| f. 90r: N[os autem gloriari] | Kreuztragung Christi |
| f. 102r: R[esurrexi] | Auferstehung Christi (oben), Petrus und Johannes kommen zum leeren Grab des Herrn (unten) |
| f. 119v: V[iri galylei] | Himmelfahrt Christi |
| f. 123r: S[piritus domini] | Pfingsten |
| f. 153v: P[salle Christo] | Jüngstes Gericht |
| f. 154r: J[ohannes virgo beatus] | Johannes und kniende Dominikanerin |
| Proprium de sanctis | |
| f. 157r: S[tatuit ei dominus] | Der heilige Nikolaus von Myra und Bari ruht im Grab |
| f. 158v: I[n medio ecclesie] | Szenen aus dem Leben des Evangelisten Johannes |
| f. 158v: J[ocunditatem] | Stehender Evangelist Johannes |
| f. 159r: H[oc vidit] | Johannes betet am Altar |
| f. 159r: I[nter illos] | Johannes kniet vor Christus auf dem Bogenthron |
| f. 159r: T[oti mundo] | Johannes und der Jüngling, der zum Räuber wurde |
| f. 159r: C[elum transit] | Johannes und der Prophet Ezechiel |
| f. 159r: S[peculator spiritalis] | Johannes spricht zu einer nimbierten Frau, darüber zwei Engel |
| f. 159r: A[udit in gyro sedis] | Johannes und der Engel der Apokalypse |
| f. 159v: D[e sigillo trinitatis] | Johannes spricht zu seinen Jüngern in Ephesus |
| f. 159v: C[eli sui sacrarium] | Johannes und Katharina de Radegge |
| f. 159v: I[ste custos virginis] | Johannes am Schreibpult |
| f. 159v: H[aurit] | Johannes trinkt, ohne Schaden zu nehmen, den Giftbecher des Aristodemus |
| f. 160r: P[ena stupet] | Johannes erleidet in Rom das Ölmartyrium |
| f. 160r: H[inc naturis] | Johannes verwandelt Kiesel in Edelsteine |
| f. 160r: Q[uo iubente] | Johannes verwandelt Zweige in Gold |
| f. 160r: H[ic infernum] | Erweckung der Verbrecher |
| f. 160r: O[bstruit] | Johannes im Streitgespräch mit den Häretikern Ebyon, Cherintus und Marcion |
| f. 160r: V[olat avis] | Johannes thront auf dem Regenbogen |
| f. 160v: T[am implenda] | Christus spricht zu Johannes |
| f. 160v: S[ponsus rubra veste tectus] | Johannes und ein Engel der Apokalypse |
| f. 160v: A[quila ezechielis sponse misit] | Botschaft an Smyrna |
| f. 160v: D[ic dilecte] | Der Evangelist spricht zu einer Frau (Ecclesia) |
| f. 160v: D[ic quis cibus] | Johannes sitzt an der Seite einer Frau und spricht mit ihr |
| f. 161r: V[eri panem] | Christus-Johannes-Gruppe |
| f. 161r: V[t cantemus] | Schwester Katharina von Radegge kniet vor Johannes |
| f. 161r: H[ic discipulus ille] | Christus im Gespräch mit Johannes und Petrus (oben), Klara von Lindau (unten) |
| f. 161v: I[ustus ut palma florebit] | Vier Szenen im Medaillons zu Tod und Verklärung des Evangelisten Johannes |
| f. 161v: E[xiit sermo] | Johannes predigt zum letzten Mal vor der Gemeinde von Ephesos (oben), Christus und seine Jünger verkünden Johannes den Tod (unten) |
| f. 163v: M[e expectaverunt] | Die hl. Agnes erscheint ihren Freunden |
| f. 164v: L[etemur omnes] | Enthauptung und Aufbewahrung des hl. Paulus |
| f. 166v: S[uscepimus deus] | Darbringung Christi im Tempel |
| f. 168v: G[audemus omnes] | Die hl. Lucia betet am Grab der hl. Agathe |
| f. 170v: R[orate coeli] | Verkündigung an Maria |
| f. 173r: P[rotexisti me deus] | Ermordung des Petrus von Verona |
| f. 175v: G[audeamus omnes] | Dornenkrönung Christi |
| f. 177v: N[e times Zacharia] | Verkündigung der Geburt des Johannes an Zacharias |
| f. 178r: F[uit homi missus] | Johannes der Täufer verkündet das Erscheinen Christi (oben), Johannes der Evangelist schreibt im Evangelium Kap. 1, 6–9 |
| f. 178v: D[e ventre matris] | Geburt Johannes des Täufers |
| f. 179v: T[u puer propheta] | Namensgebung vor der Beschneidung Johannes des Täufers (oben), Mutter-und-Kind-Gruppe (unten) |
| f. 181v: N[unc scio vere] | Der gekreuzigte Apostel Petrus von Jüngern Christi umgeben |
| f. 182r: S[cio cui credidi] | Bekehrung des Apostels Paulus |
| f. 183v: M[ichi autem nimis] | Enthauptung des Apostels Jakobus des Älteren |
| f. 184v: I[n medio ecclecie] | Der hl. Dominikus mit Angehörigen seines Ordens |
| f. 185r: P[ie pater Dominice] | Dominikus überantwortet Christus seinem Ordern (oder Christus sendet den Predigerorden in die Welt) |
| f. 188r: G[audeamus omnes] | Christus und Maria krönen eine gekrönte und nimbierte Frauengestalt (leibliche Aufnahme Marias in den Himmel oder Krönung der minnenden Seele?) |
| f. 188v: H[odie Maria virgo] | Tod Marias |
| f. 189v: O[s iusti] | Der hl. Bernhard von Clairvaux, Maria (?), Dominikus (?) |
| f. 190r: J[ustus ut palma] | Maria besucht Elisabeth / Johannes der Täufer in der Wüste / Johannes predigt dem Volk Buße /Johannes mit «Agnus dei»-Scheibe weist auf Christus und spricht zu seinen Jüngern «sehet das Lamm Gottes» / Der Auferstandene, gefolgt von einem Engel, führt Johannes den Täufer und die Heiligen des Herrn in die Vorhölle / Jüngstes Gericht (Deësis) |
| f. 190v: M[isso herodes] | Enthauptung Johannes des Täufers |
| f. 190v: G[audeamus omnes] | Geburt der Maria |
| f. 196v: S[tatuit ei dominus] | Der hl. Martin teilt seinen Mantel mit dem Bettler |
| f. 197v: G[audeamus omnes] | Engel bestatten die hl. Katharina auf dem Sinai |
| f. 198r: M[ichi autem] | Jesus unterweist seine Jünger |
| f. 231v: S[alve sancta parens][14] | Maria auf dem Thron Salomonis |
| f. 258v: A[ve Maria] | Maria Ecclesia und Johannes der Evangelist |
| f. 261v: I[n celesti yerarchya] | Entrückung des hl. Dominikus (Himmelsleiter) |
| f. 263r: L[audes ergo] d | Der hl. Dominikus krönt Schwester Katharina Hernazzen |
| f. 264v: G[abrielis vox iocunda] | Der kleine Johannes der Täufer huldigt dem Jesusknaben |
| f. 291r: C[lari duces] | Petrus und Paulus |
| f. 293r: L[statt N = Nicolaum armonye] | Der hl. Nikolaus befreit den Adeolatus |
Aus dieser Anlistung (nach Ellen J. Beer) zeichnen sich vier größere Themengruppen ab:
1. Darstellungen christologisch-mariologischen Inhalts, ohne klare Abgrenzung,
2. Die legendäre Johannesvita (fol. 158v bis 161v),
3. Ein Bilderkreis Johannes des Täufers mit fast vollständiger Vita (ff. 13v, 21r, 177v bis 179v, 190r, 190v),
4. Die Hauptheiligen des Predigerordens, Dominikus und Petrus Martyr (ff. 173r, 175v, 184v, 185r, 261v).[15] Die besondere Verehrung des Evangelisten Johannes kommt dadurch zum Ausdruck, dass die entsprechende Liturgie (f. 158v-161v) durch nicht weniger als 30 illuminierte Initialen geschmückt ist. Daneben wurde die Sequenz Verbum dei, deo natum hier in die Messliturgie eingebunden und findet sich nicht, wie die anderen Sequenzen, am Ende des Buches. Dieser Abschnitt repräsentiert den visuellen Höhepunkt des ganzen Manuskripts.[16]
Die Initialen lassen sich in vier verschiedene Gruppen einteilen:
1. Zierbuchstaben, die einem gerahmten Feld von quadratischer oder dem Quadrat angenäherter, selten hochrechteckiger Form eingeschrieben sind,
2. Bildfelder in der Art der ersten Gruppe, von deren Rahmenleisten kräftige, rankengleich gebogene oder eingerollte Blatt- bzw. Blütenzweige ausgehen – in ihnen knien meist Stifterfigürchen,
3. Zierbuchstaben mit ausgeprägten Unterlängen,
4. Medailloninitialen von meist Blatthöhe.[17]
Insgesamt 13 Prachtinitialen mit einem Rahmen um den Schriftspiegel finden sich auf ff. 47r, 91r, 98r, 101v, 129r, 154r, 156r, 157v, 183r, 192r, 194r, 260r, 266v. Zusätzlich gibt es 3 große Initialen als Federzeichnung auf f. 217v (nur mit einer Randleiste), 299r (ohne Rahmen) und 309r (nur Randleiste), was vermutlich zu den abweichenden Angaben von 13 oder 16 Prachtinitialen führte.
Abgesehen von den Initialminiaturen und Filigraninitialen enthält der Codex auch eine einfachere Ausstattung: Wie üblich sind die Rubriken mit roter Tinte geschrieben. Die Anfänge der Gebetstexte sind mit Cadellen hervorgehoben, die mit rotem Zierrat versehen sind und bisweilen das Text-Noten-Corpus übersteigen. Einzeilig hohe Fleuronnée-Lombarden, abwechselnd in Rot und Blau, leiten die Stundengebete ein, wobei von solchen Initialen zweifarbige Zierstäbe ausgehen können, die den Schriftspiegel teilweise oder ganz umranden. Lombarden werden fast ausschließlich im Kyriale für den Beginn der Ordinariumsgesänge (ab f. 234r) und im Sequentiar für die Strophenanfänge verwendet. Schließlich sind gelegentlich Heiligennamen zur Auszeichnung ganz in meist fleuronnierten Majuskeln geschrieben,[18] ebenso Jesus cristus auf f. 88r.
Nuancen im Stil der Miniaturinitialen lassen auf mindestens sechs, wenn nicht sieben Maler schließen, die an der Handschrift beteiligt waren. Sie könnten im Umkreis des Inselklosters in Konstanz, dem die seelsorgerische Betreuung der Katharinenthaler Nonnen anvertraut war, gewirkt haben.[19]
Einband
Wie der ursprüngliche Einband des Graduale aussah, ist nicht bekannt. Der heutige Einband stammt aus dem 15. Jahrhundert und besteht aus zwei starken, an den äußeren Kanten leicht abgerundeten Holzdeckeln, die mit unverziertem, vom Gebrauch abgegriffenen Schweinsleder überzogen sind. Eine Rückenverstärkung aus hellerem Schafsleder und ein Streifen aus gleichem Material zum Schutz des Vorderschnitts dürften neueren Datums sein. Auf dem Vorder- und Rückdeckel finden sich je fünf Eisenbeschläge mit Buckeln und unten je zwei Haften zum Einstecken der Handschrift in das Chorpult. Die Heftung der Lagen zeichnet sich in Form von drei erhabenen Bünden auf dem Rücken ab. Von den ehemals vier Riemenschließen ist nur noch die untere erhalten geblieben.[21]
Faksimile
Im Jahr 1983 gab eine vom Schweizerischen Landesmuseum, der Gottfried-Keller-Stiftung und dem Kanton Thurgau gebildete Editionskommission ein Faksimile des Graduale heraus.
- Das Graduale von Sankt Katharinenthal. Faksimile-Verlag Luzern 1979.
- Kommentar zur Faksimile-Ausgabe des Graduale von Sankt Katharinenthal, Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Kantons Thurgau. (Mit einer Einführung von Alfred A. Schmidt und Beiträgen von Ellen J. Beer, Albert Knöpfli, Pascal Ladner, Max Lütolf, Dietrich Schwarz, Lucas Wüthrich; zitiert als Kommentar), Faksimile-Verlag Luzern 1983, ISBN 3-85672-011-1.
Für das Faksimile wurden auch die Blätter 87a und 158a, die ausgetrennt worden waren, so weit irgend möglich anhand der weltweit verstreuten Miniaturen rekonstruiert.[22]
Literatur
- Albert Knoepfli: St. Katharinenthal und sein Graduale von 1312, Neue Zürcher Zeitung, Nr. 3907 vom 28. Dez. 1958, S. 21 und 22.
- Franz Brenn: Die Sequenzen des Graduale von St. Katharinenthal, in: Hellmut Federhofer (Hrsg.): Festschrift Alfred Orel zum 70. Geburtstag, Rohrer, Wien 1960, S. 23–42.
- Jeffrey F. Hamburger, Eva Schlotheuber, Susan Marti, Margot E. Fassler: Liturgical Life and Latin Learning at Paradies bei Soest, 1300–1425, Aschendorff Verlag, Münster 2016, ISBN 978-3-402-13072-8, vol.. I, S. 183, 218, 272, 330f, 552, 559, 573–579, 586, 593f, 740f, 759f.
- Jeffrey F. Hamburger, Inscribing the Word – Illuminating the Sequence: Epithets in Honor of John the Evangelist in the Graduals from Paradies bei Soest. In: Jeffrey F. Hamburger (Hrsg.): Leaves from Paradise: The Cult of John at the Dominican Convent of Paradies bei Soest, Houghton Library, Cambridge 2008, ISBN 978-0-9765472-8-0, S. 161–213, hier S. 172f, 185f. 198f.
- Jeffrey F. Hamburger: Brother, Bride and alter Christus: The Virginal Body of John the Evangelist in Medieval Art, Theology and Literature. In: Ursula Peters (Hrsg.): Text und Kultur: Mittelalterliche Literatur 1150–1450, ISBN 978-3-476-01854-0, Metzler, Stuttgart 2001, S. 296–328, hier S. 298.
- Jeffrey F. Hamburger: »Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit« – Johannes der Evangelist und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduale von St. Katharinenthal. In: Hans–Jochen Schiewer, Karl Stackmann (Hrsg.): Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften (Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000), Niemeyer, Tübingen 2002, ISBN 978-3-484-10847-9, S. 131–175.
- Jeffrey F. Hamburger: St. John the Divine – The Deified Evangelist in Medieval Art and Theology, University of California Press, Berkeley/Los Angeles/London 2002, ISBN 978-0-520-22877-1, S. 72f, 95–164 (The Mirror of Wisdom — The Cult of St. John), 207–211 („Verbum dei deo natum“ from the gradual of St. Katharinenthal, Fols. 158av-161r, lat./mhd.).
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ René Strasser: Das Graduale von Katharinental. Hymnarium, 17. April 2011, abgerufen am 16. August 2025.
- ↑ J. F. Hamburger: St. John the Divine, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 72.
- ↑ Pascal Ladner: Codicologische und liturgische Beschreibung des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 295–300, hier S. 295.
- ↑ Lucas Wüthrich: Geschichte der Handschrift. In: Kommentar, S. 79–101, hier S. 93.
- ↑ Lucas Wüthrich: Geschichte der Handschrift. In: Kommentar, S. 70–99.
- ↑ F. Gysin: Die Zurückgewinnung des Graduale von St. Katharinenthal, Neue Zürcher Zeitung, 22. Dez. 1958
- ↑ Pascal Ladner: Codicologische und liturgische Beschreibung des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 295–300, hier S. 298.
- ↑ a b Pascal Ladner: Codicologische und liturgische Beschreibung des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 295–300, hier S. 296.
- ↑ Andrej Abplanalp: Kulturhistorisches Schwergewicht. Schweizerisches Nationalmuseum, 2. Juni 2017, abgerufen am 15. August 2025.
- ↑ Max Lütolf: Anmerkungen zum liturgischen Gesang im mittelalterlichen St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 235–294, hier S. 247 f.
- ↑ Max Lütolf: Anmerkungen zum liturgischen Gesang im mittelalterlichen St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 235–264, hier S. 259, 261 und 264.
- ↑ F. Brenn: Die Sequenzen des Graduale von St. Katharinenthal, Wien 1960, S. 28–36.
- ↑ George Warner: Descriptive Catalogue of Illuminated Manuscripts in the Library of C. W. Perrins. Band I (Text), Oxford 1920; Neuausgabe New Haven 1962, S. 301. Gegen die Annahme von Katharina als Hauptilluminatorin oder -schreiberin: Andreas Bräm: Imitatio Sanctorum. Überlegungen zur Stifterdarstellung im Graduale. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 49 (1992), S. 103–113.
- ↑ Christine H. Keller: Graduale aus St. Katharinenthal, in Schweizerisches Nationalmuseum (Hrsg.): Nonnen – Starke Frauen im Mittelalter (Katalog zur Ausstellung im Schweizerischen Nationalmuseum 2020), Hatje Cantz, Berlin 2000, S. 120.
- ↑ Ellen J. Beer: Die Buchkunst des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 103–224, hier S. 103–173.
- ↑ Jeffrey F. Hamburger, Inscribing the Word – Illuminating the Sequence: Epithets in Honor of John the Evangelist in the Graduals from Paradies bei Soest, Cambridge 2008, S. 173.
- ↑ Ellen J. Beer: Die Buchkunst des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 103–224, hier S. 180f.
- ↑ Pascal Ladner: Codicologische und liturgische Beschreibung des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 295–300, hier S. 297.
- ↑ Ellen J. Beer: Die Buchkunst des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 103–224, hier S. 193–196 bzw. S. 187–190.
- ↑ Jeffrey F. Hamburger, Inscribing the Word – Illuminating the Sequence: Epithets in Honor of John the Evangelist in the Graduals from Paradies bei Soest, Cambridge 2008, S. 182
- ↑ Pascal Ladner: Codicologische und liturgische Beschreibung des Graduale von St. Katharinenthal. In: Kommentar, S. 295–300, hier S. 295.
- ↑ Lucas Wüthrich: Geschichte der Handschrift. In: Kommentar, S. 70–99, hier S. 93–95.