Gracia Nasi

Gracia Nasi (geboren 1510 in Portugal als Beatrice de Luna Miques; gestorben 1569 bei Konstantinopel) war eine sephardische Persönlichkeit der Renaissance. Als Tochter marranischer Eltern wurde sie katholisch getauft und erhielt einen portugiesischen Namen. Als Witwe übernahm sie das Bank- und Handelshaus Mendes Benveniste (auch in der Namensform Mendes Bemvisto bekannt) mit Niederlassungen in vielen Ländern Europas und der mediterranen Welt, das sich mit den Fuggern und Welsern messen lassen konnte. Gemeinsam mit ihrer Familie unterhielt sie weitverzweigte Finanz- und Handelsverbindungen und arbeitete mit dem osmanischen Sultan zusammen, um Handwerk und Gewerbe in seinem Reich zu entwickeln. Sie betätigte sich als Diplomatin und Philanthropin und ging als solche auch als „Retterin ihres Volkes“ in die jüdische Geschichte ein. Ihr Name wird oft mit dem Ehrentitel „Dona“ versehen, der ihr hohes Ansehen versinnbildlicht.

Die Trostschrift des Samuel Usque, Consolação às Tribulações de Israel (Trost für die Leiden Israels), hier das Titelblatt der Erstausgabe von 1553 in alter portugiesischer Orthografie, enthält eine Lobrede auf Dona Gracia: „Die wesenhafte Frömmigkeit Mirjams, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um ihre Brüder zu retten, die große Umsicht Deboras, die ihr Volk anführte, die grenzenlose Tugend und große Heiligkeit Esters, die denen half, die verfolgt waren, und die vielgepriesene Stärke der äußerst keuschen und großmütigen Judit.“

Biografie

Als Beatrice de Luna Miques getauft (ihr geheimer jüdischer Vorname war Hanna auf Hebräisch und Gracia in portugiesischer Übersetzung) wuchs Gracia Nasi, wie sie sich erst später nannte, als Tochter wohlhabender marranischer Eltern im Schatten der Inquisition in Lissabon auf. Die Familie ihres Vaters, Agostino Álvaro Miques de Luna (sein hebräischer Name lautete Samuel Na(s)ci), und die ihrer Mutter, Philipa Mendes Bemvisto, stammten aus dem Königreich Aragón und hatten nach der Vertreibung der Juden durch die Katholischen Könige (Alhambra-Edikt von 1492) in Portugal Zuflucht gefunden. Gracia Nasis Familie gelangte dort zu großem Einfluss, und ihr Bruder, Agostino Miques, stieg zum Leibarzt des portugiesischen Königs auf.[1]

Mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien war Portugal zur ersten europäischen Handelsmacht aufgestiegen, und unter der Leitung von Henrique Nunes Mendes florierte die „Casa dos Mendes“ im Fernhandel insbesondere mit Edelsteinen und Gewürzen. Nach Henriques Tod übernahmen seine Söhne, Francisco Mendes in Lissabon und Diogo Mendes (Meir Benviste) in Antwerpen, die Geschäfte der Familie und zahlten 1525 dem König von Portugal, Dom Manuel I., rund eine Million Cruzados zum Erwerb des königlichen Pfeffermonopols, das sie europaweit ausbeuteten.[2] Diogo Mendes und sein Geschäftspartner, João Carlos Affaitati (auch Lafetás oder Lafetats genannt), kümmerten sich um den Verkauf und bestimmten den Pfefferpreis in Antwerpen. Aufgrund des Einflusses der Mendes verloren deutsche Kaufleute ihre Privilegien in Lissabon, zugleich bescherte der Handel mit dem Spekulationsobjekt Pfeffer Antwerpen eine außergewöhnliche Blüte.[3]

Im Jahr 1528 heiratete Beatrice de Luna in der Kathedrale von Lissabon einen Onkel mütterlicherseits, Francisco Mendes (sein jüdischer Name lautete Semah Bemvisto). Nach der katholischen Zeremonie schloss das Paar heimlich die Ehe nach jüdischem Ritus (inklusive Ketubba). Aus der Verbindung ging 1532 eine Tochter hervor, Ana, die sich im Erwachsenenalter Reyna Nasi nannte.[1][4] Mitte des Jahres 1536 starb Francisco Mendes. Es ist ungeklärt, ob die im Mai 1536 in Lissabon eingesetzte Inquisition dafür ursächlich war.[1]

Beatrice de Lunas Ehemann hatte sie als Erbin eingesetzt, und nun zog die 27-jährige Witwe mit mehreren Familienangehörigen nach Antwerpen zu Diogo Mendes, ihrem Schwager und Geschäftspartner. Dieser heiratete ihre jüngere Schwester Brianda. Beatrice de Luna und Diogo waren neben ihren Finanz- und Handelstätigkeiten auch damit beschäftigt, Marranen aus Lissabon in andere europäische Städte einzuschiffen, um sie dem drohenden Zugriff der Inquisition zu entziehen. Sie taten dies, indem sie ihnen fingierte Handelsaufträge erteilten, die mit Auslandsreisen verbunden waren, die in Wirklichkeit zur Flucht dienten. Nach dem Tod Diogos im Jahr 1542 erbte Beatrice auch seinen Teil des Familienvermögens.

Im Jahr 1544 verließ sie auf politischen Druck Antwerpen, das von den spanischen Habsburgern regiert wurde und wie die übrigen Reichsteile der Gerichtsbarkeit der Inquisition unterstellt worden war. (Bereits 1532 war Diogo Mendes verhaftet und nur durch Intervention des portugiesischen Königs, Johanns III., freigelassen worden.) Sie reiste mit ihrer Tochter Ana, ihrer Schwester Brianda und weiteren Angehörigen durch Europa. Die Familie lebte ab 1544 dank eines Freibriefs („salvacondotto“) des Rates der Zehn in der Republik Venedig. Dort konnte Beatrice de Luna ihre Bank weiterführen, bis Vermögensstreitigkeiten und Gerichtshändel – sowohl mit ihrer Schwester Brianda als auch mit der Republik Venedig – dies unmöglich machten. Im Jahr 1550 erhielt sie einen Freibrief vom Herzog von Ferrara, floh aus Venedig und siedelte nach Ferrara über.

Dort konnte sie die jüdische Religion erstmals offen ausüben. Sie legte den Namen Beatrice de Luna ab und nannte sich fortan Gracia Nasi, war als Mäzenin und Wohltäterin tätig und gab die Edition der sogenannten Bibel von Ferrara in Auftrag, der ersten Übersetzung der hebräischen Bibel ins Spanische, die im Jahr 1553 von Abraham Usque gedruckt wurde. Von der Übersetzung wurden zwei Fassungen angefertigt, eine für christliche Leser auf Kastilisch, die andere für jüdische auf Ladino.

Auf Vermittlung des jüdischen Arztes Moses Hamon, des Leibarztes von Sultan Süleyman I., der sich schon um die Freilassung der Familie und die Freigabe ihres Vermögens bemüht hatte, übersiedelte Gracia Nasi schließlich nach Konstantinopel, ihrem letzten Aufenthaltsort. Sie zog in der Stadt mit großem Pomp ein, und 1554 traf auch ihr Neffe Joseph Nasi (sein Taufname war João Miquez) mit einem Gefolge von Leibwächtern, Dienern in Livrée und rund 500 Marranen dort ein.

Unter den Sultanen Bayezid II., Selim I. und Süleyman I. wurden zum Wohle des Osmanischen Reiches jüdischen Immigranten nicht nur Asyl, sondern auch weitgehende religiöse Freiheiten und ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten gewährt. Dona Gracia konnte mit Handelsschiffen, die in ihrem Auftrag gebaut wurden und die Meere befuhren, die Geschäftstätigkeiten ihrer Familie mit der Republik Venedig und anderen Staaten Italiens weiterführen. Angesichts der von Papst Paul IV. 1555 verfügten Verschärfung der Inquisition bemühte sich Dona Gracia erneut um die Rettung bedrängter Juden, diesmal aus der Stadt Ancona.[1]

1566 wurde Joseph Nasi von Selim II. zum Herzog von Naxos und der Kykladen ernannt. Nachdem sich Selim mit Josephs Unterstützung im Kampf um die Nachfolge im Sultanat durchgesetzt hatte, überzeugte er aus Dankbarkeit den amtierenden Sultan, Joseph auch zum Herrn über Tiberias und sieben weitere Orte am See Genezareth in Palästina zu ernennen. Daraufhin erwarb Gracia ein Anwesen in Tiberias und gründete dort eine jüdische Ansiedlung mit einem Lehrhaus (Jeschiwa). Durch einen Ferman des Sultans unterstützt und mit dem Geld Dona Gracias wurden die Stadtmauern von Tiberias wieder hergestellt, und Joseph Nasi ließ Maulbeerbäume für die Seidenherstellung und Wolle aus Spanien importieren mit dem Ziel, den Aufbau einer Textilproduktion zu fördern. Die Osmanen hatten Palästina erst kurz zuvor erobert und waren an seiner wirtschaftlichen und demografischen Konsolidierung interessiert. Doch nur wenige Juden wollten sich in dem unbekannten unwirtlichen Land ansiedeln, das zwar als Land ihrer Vorväter galt, doch nach Zeiten des Niedergangs ein karges Dasein versprach. Bereits nach zehn Jahren gaben die jüdischen Kolonisten die junge Siedlung auf. Gracia Nasi erlebte das Scheitern ihres Projekts nicht mehr, sie starb bereits 1569.

Gedenkstein für Dona Gracia zu ihrem 500. Geburtstag (2010) in Tiberias

Literatur

  • Hannah Karminski: Jüdisch-religiöse Frauenkultur, in Emmy Wolff Hg.: Frauengenerationen in Bildern. Herbig, Berlin 1928, S. 163–172 (darin Grazia Nassi (sic) S. 164f., mit einer bekannten zeitgenössischen Medaille (1556), einseitig geprägt, mit Büste Nassis nach S. 164)
  • Cecil Roth: Dona Gracia of the House of Nasi. Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1948.
  • Riccardo Calimani: Joao Micas, Giovanni Miches, Juan Miguez, Joseph Nasi, duca di Nasso: quattro nomi e molte identità per un stesso uomo. In: Calimani: Storia del ghetto di Venezia. Mailand 1995, S. 103–109.
  • Herman Prins Salomaon und Aron di Leoni Leoni: Mendes, Benveniste, de Luna, Micas, Nasci: The State of the Art (1532-1558). In: Jewish Quarterly Review, LXXXVIII, Nr. 3–4 (Jan.–April 1998), S. 135–211.
  • Andrée Aelion Brooks: The Woman Who Defied Kings. The Life and Time of Doña Gracia Nasi, a Jewish Leader during the Renaissance. Paragon House, St. Paul (Michigan) 2002, ISBN 1-55778-805-7.
  • Renée Levine Melammed: Heretics or Daughters of Israel? The Crypto-Jewish Women of Castile. Neuausgabe Oxford University Press, New York u. a. 2002, ISBN 0-19-515167-4.
  • Marianna D. Birnbaum: The Long Journey of Gracia Mendes. Central European University Press, Budapest 2003.
  • Yaron Ben-Naeh: Sultansjuden. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 5. Metzler, Stuttgart u. a. 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 611–614.
  • Abraham David: The Nasi Family and the Reconstruction of Tiberias in the Second Half of the Sixteenth-Century. In: Judaica, Bd. 73, Nr. 1 (März 2017), S. 36–57.

Belletristische Darstellungen

Mehrere Romane handeln vom Leben Gracia Nasis:

  • Catherine Clément: La Señora. Calmann-Lévy, Paris 1992, ISBN 2-7021-2062-8 (deutsche Ausgabe: Die Senyora, übersetzt von Giuliana Broggi Beckmann. Rowohlt, Reinbek 1995, ISBN 3-499-13546-9).
  • Naomi Ragen: The Ghost of Hannah Mendes. Simon & Schuster, New York u. a. 1998, ISBN 0-684-83393-X.
  • Marianna D. Birnbaum: The Long Journey of Gracia Mendes. Central European University Press, Budapest u. a. 2003, ISBN 963-9241-67-9.
  • Peter Prange: Die Gottessucherin. Droemer Knaur, München 2009, ISBN 978-3-426-19751-6; Neuausgabe: Die Götter der Dona Gracia, Fischer-TB, Frankfurt 2021, ISBN 978-3-596-70024-0.
  • Waldtraut Lewin: Die Jüdin von Konstantinopel. Knaur-TB, München 2010, ISBN 978-3-426-50430-7.
  • Jizchak Gormezano Goren: Kvartet ha-seniora (hebräisch: Das Quartett der Señora), Tl. 1 Ha-scheker ha-kadosch (Die heilige Lüge), Tl. 2 Malkat ha-finansim (Königin der Finanzen), Tl. 3 Kadachat venezianit (Venezianisches Fieber), Tl. 4 Malkat ha-jehudim (Königin der Juden). Verlag Ha-Kibutz ha-me'uchad, Bne Brak 2010, 2013, 2015 bzw. 2019.

Einzelnachweise

  1. a b c d Gerda Hoffer: Gracia Nasi. In: Zeit der Heldinnen. Lebensbilder außergewöhnlicher jüdischer Frauen. München 1999, ISBN 3-423-30701-3, S. 49–75.
  2. https://www.historiadamedicina.ubi.pt/cadernos_medicina/vol09.pdf Alfredo Rasteiro: Amato e os Nasci, Medicina na Beira Interior, da Pré-História ao Século XXI, Cadernos de Cultura, n° 9, November 1995, S. 6
  3. AFFAITATI, João Francisco, Cátedra de Estudos Sefarditas Alberto Benveniste - Faculdade de Letras da Universidade de Lisboa.
  4. https://www.vidapraticajudaica.com/single-post/2018/06/19/A-História-de-Dona-Gracia-Mendes-Nasi