Gesamtarchiv der deutschen Juden

Das Gesamtarchiv der deutschen Juden war ein von 1905 bis 1943 bestehendes Archiv in Berlin. Seine Aufgabe bestand in der Zusammenführung der Archive von jüdischen Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreichs. Als selbstständiges jüdisches Archiv hatte es keine Vorgänger und musste seine Struktur und seine Methoden selbst entwickeln. Mit dieser Pionierarbeit und den hier gewonnene Erfahrungen der ersten Generation jüdischer Archivare schuf das Gesamtarchiv die Grundlagen für spätere ähnliche Einrichtungen, wie den 1939 gegründeten Jewish Historical General Archives (JHGA) in Jerusalem als direktem Vorgänger der Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP).

Geschichte

Im Frühjahr 1903 stellte der Historiker und Archivar Ezechiel Zivier der B’nai-B’rith-Loge in Breslau seine Ideen für ein Allgemeines Archiv der deutschen Juden als jüdisches Nationalarchiv vor. Bereits im Dezember desselben Jahres signalisierten der Deutsch-Israelitische Gemeindebund und der deutsche Dachverband Unabhängiger Orden Bne Briss ihre Unterstützung für das Vorhaben. Das Gesamtarchiv der deutschen Juden wurde 1905 in Berlin gegründet. Erster Direktor war ab 1906 Eugen Täubler, der bis 1918 dieses Amt bekleidete.[1]

Geografische Beschränkung

Als Sitz des Gesamtarchivs wurde die Reichshauptstadt Berlin gewählt, obgleich sich auch die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main darum bemüht hatte. In Berlin wuchs der Anteil der Juden in der Bevölkerung rasch an, und die jüdische Gemeinde stellte Räume und finanzielle Mittel zur Verfügung. Berlin war auch das Zentrum des politischen Lebens im Deutschen Kaiserreichs. Die Fixierung auf das Judentum in Deutschland zeigte sich im Ausschluss oder der Zurücksetzung von Zentren jüdischen Lebens wie Wien und Frankfurt am Main. Sie gehörten in der Vorstellung der Leitung des Gesamtarchivs nicht zu Deutschland, oder sie waren im politischen Leben des Reichs von nachrangiger Bedeutung. Der Leitung des Gesamtarchivs war es ein Anliegen, das deutsche Judentum als festen Bestandteil des deutschem Nationalstaats im Sinne Kleindeutschlands darzustellen.[2]

Die Sammlung war von vorneherein streng auf jüdische Gemeindearchive und Archivalien aus dem Deutschen Reich in seinen damalige Grenzen beschränkt. Zentren jüdischen Lebens in Süddeutschland und Hamburg wurden zunächst weniger beachtet, während im Rheinland, Hessen und in den östlichen Provinzen, insbesondere an den teils umstrittenen Grenzen im Osten, eine rege Sammeltätigkeit bestand. Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen grenzferne Regionen an Bedeutung, aber besonders die nun im Ausland liegenden Gebiete. Im Osten war ein großer Teil des Deutschen Reichs an Polen verloren, viele dort ansässige Juden zog es nach Westen. Hinzu kamen die Pogrome in Russland, der Ukraine und anderen Staaten Osteuropas. Es wurde der Untergang zahlreicher kleiner jüdischer Gemeinden im Osten befürchtet, deren kulturelles Erbe gerettet werden musste. Beispiele gab es bereits, so den Untergang der Gemeinden in Posen, Brätz und Vietz.[2]

Entwicklung

Bereits in den ersten Jahren nach der Gründung stellte sich heraus, dass die Werbung des Gesamtarchivs um die Übereignung der Gemeindearchive dazu führen konnte, dass eine Gemeinde von der historischen Bedeutung seines Archivs überzeugt wurde, und ihr eigenes Archiv behalten wollte. Andere Gemeinden fürchteten um ihre Autonomie. In einigen Gebieten wie Elsass-Lothringen, Hannover und Bayern kam es zu Initiativen mit dem Ziel, regionale Archive aufzubauen. Großgemeinden wie Frankfurt hatten bereits ein gut organisiertes Archivwesen. Hinzu kamen Bedenken, dass ein Gesamtarchiv der deutschen Juden, das für sich alle in Deutschland vorhandenen Archivalien mit Bezug zum Judentum in Deutschland beanspruchte, zwangsläufig das Provenienzprinzip verletze. Dennoch gelang es Täubler, eine rasch zunehmende Zahl jüdischer Gemeinden davon zu überzeugen, ihre Archive dem Gesamtarchiv zu übergeben. Teils geschah dies auf der Grundlage von Verträgen, nach denen die Herkunftsgemeinden weiter Eigentümer der Archive blieben.[1][3]

1907 besaß das Gesamtarchiv die Bestände von 88 jüdischen Gemeinden, 1910 waren es etwa 250 Gemeindearchive. In diesem Jahr entschied der Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, Reinhold Koser, das im Staatsarchiv vorhandene Material mit Bezug zum Judentum an das Gesamtarchiv zu übergeben. Da am ersten Standort die vorhandene Kapazität ausgeschöpft war, wurde ein Umzug in Räume der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße notwendig.[1]

Der Erste Weltkrieg unterbrach die Tätigkeit des Gesamtarchivs. Eugen Täubler und sein Assistent Georg Herlitz wurden zum Kriegsdienst eingezogen und nahmen nach Kriegsende Aufgaben in anderen Organisationen wahr. Erst 1920 nahm das Gesamtarchiv unter der Leitung des Historikers und Archivars Jacob Jacobson seine Tätigkeit wieder auf. Finanzierungsprobleme als Folge der Inflation bis 1923 und geringe Nutzerzahlen brachten das Gesamtarchiv wiederholt an den Rand der Schließung.[1]

Nationalsozialismus und Zerschlagung

Im Nationalsozialismus bestand das Gesamtarchiv der deutschen Juden zunächst weiter, musste aber den Namen Gesamtarchiv der Juden in Deutschland annehmen. Der gesamte Kulturbetrieb war von der immer stärkeren Ausgrenzung von Juden betroffen, auch das Bibliotheks- und Archivwesen. Hinzu kam ein erwachtes Interesse von Juden an der Geschichte ihres Volkes. Getrieben von Gesetzen wie 1933 dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 1935 seiner Zweiten Durchführungsverordnung und den Nürnberger Rassegesetzen waren viele Juden und Nichtjuden zur Feststellung oder Widerlegung ihrer jüdischen Familienzusammenhänge motiviert oder gezwungen. Die Besucherzahlen des Gesamtarchivs stiegen enorm an, auf 50 bis 100 Personen täglich in 1937 und 1938.

Es folgte die Nutzung der jüdischen Archive, auch des Gesamtarchivs, durch den Staatsapparat. Walter Frank, der Präsident des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, einer 1935 gegründeten Einrichtung der NSDAP, stellte Ende 1936 die Beschlagnahmung jüdischen Archivmaterials in Aussicht. In der Nacht der Novemberpogrome 1938 befahl Reinhard Heydrich in einem Fernschreiben, dass jüdische Archive von den Aktionen auszuschließen seien. Dennoch geriet das Gesamtarchiv in größte Gefahr, als Mitglieder der SA in der Synagoge Feuer legten. Der Leiter des nahe gelegenen Polizeireviers am Hackeschen Markt, Wilhelm Krützfeld trat den Brandstiftern entgegen und die herbeigerufene Feuerwehr konnte den Brand löschen.[4]

Nachfolgend beschlagnahmte die Gestapo jüdische Archive im ganzen Reich. Die jüdischen Akten sollten für politische Zwecke zusammengefasst werden. Auch das Gesamtarchiv war betroffen. Es wurde 1939 der Reichsstelle für Sippenforschung eingegliedert, die Gestapo belegte zwei Büros und setzte einen Mitarbeiter zur Überwachung der Tätigkeit des Archivs ein.[4] Nun wurden die Bestände aufgeteilt. Das Reichssippenamt mit seiner Zentralstelle für jüdische Personenstandsregister übernahm den für seine Tätigkeit relevanten Teil. Die historisch wertvollen Akten gingen an das Preußische Geheime Staatsarchiv.[3]

In der Zeit von 1905 bis 1940 waren im Gesamtarchiv Unterlagen aus mehr als 500 Gemeinden und anderer Körperschaften zusammengeführt worden, darunter die Archive von mehr als 400 jüdischen Gemeinden.[5][3]

Auslagerung und Verbleib

1942 und 1943 wurden die Bestände zum Schutz vor Kriegseinwirkungen an verschiedene Orte ausgelagert. Die Personenstandsregister wurden in das Jagdschloss Rathsfeld verbracht und dort fotografiert. Die Filme befinden sich heute in den Hauptstaatsarchiven der Länder und im Bundesarchiv.[3]

Die historischen Bestände wurden zunächst nach Hochwalde im Kreis Meseritz, Brandenburg (heute Wysoka in der Gmina Międzyrzecz) ausgelagert und nach der Sicherstellung durch sowjetische Truppen im Zentralen Staatsarchiv Merseburg aufbewahrt. Ein kleiner Teil wurde in das Sonderarchiv Moskau gebracht. 1950 wurden die Merseburger Archivalien durch Werner Sander katalogisiert und schließlich der jüdischen Gemeinde in Berlin übergeben. Große Teile dieses Bestands, vorwiegend alte und wertvolle Dokumente, kamen in den 1950er Jahren in die Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem.[3]

Seit 1958 wurde der Rest der aus Merseburg nach Berlin zurückgegebenen Unterlagen im Deutschen Zentralarchiv in Potsdam verwahrt. Erst 1988 wurden diese Bestände der Forschung zugänglich gemacht. Sie befinden sich seit 1996 im Centrum Judaicum der Jüdischen Gemeinde Berlin. Dort wurden sie auf Film gesichert, nötigenfalls restauriert und katalogisiert. Ein umfassendes Inventar wurde 2001 veröffentlicht und umfasst auf etwa 800 Seiten Archivalien, die überwiegend aus der Zeit vom 18. Jahrhundert bis 1945 stammen.[3]

Verschollen sind bis heute die Akten des Berliner Büros des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) aus der Zeit vor 1924. Auch die noch 1950 von Werner Sander katalogisierten Archivalien von 77 jüdischen Gemeinden aus dem Bestand in Merseburg waren um 1990 weder in Berlin, noch in Jerusalem vorhanden. Schließlich fehlt auch von den Originalen der 1942/43 in das Jagdschloss Rathsfeld gebrachten Personenstandsregister jede Spur.[3]

Unterstützt von der Volkswagenstiftung wurde ein großer Teil der in das CAHJP gelangten Bestände des Gesamtarchivs und weiterer jüdischer Gemeinden seit den 1980er Jahren katalogisiert und auf den Webseiten der CAHJP der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.[3]

In der Nachfolge des Gesamtarchivs sieht sich das 1987 gegründete Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland mit Sitz in Heidelberg. Es wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragen und vom Bundesministerium des Innern und für Heimat finanziert.[6] In seinen Beständen finden sich Akten des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und anderer Studentenvereinigungen sowie Archive jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland. Beispiele für personenbezogene Bestände sind Dokumente von Schriftstellern wie Henryk M. Broder, Rafael Seligmann, Peter Sichrovsky und Barbara Honigmann.[7]

Literatur

  • Jason Lustig: A Time to Gather. Archives and the Control of Jewish Culture. Oxford University Press, New York 2022, ISBN 978-0-19-756352-6.

Einzelnachweise

  1. a b c d Jason Lustig: Archival Totality in the Gesamtarchiv der deutschen Juden. In: derselbe, A Time to Gather, Kapitel 1, S. 20–51, hier S. 20–24.
  2. a b Jason Lustig: Archival Totality in the Gesamtarchiv der deutschen Juden. In: derselbe, A Time to Gather, Kapitel 1, S. 20–51, hier S. 36–39.
  3. a b c d e f g h Peter Honigmann: Gesamtarchiv der deutschen Juden. Band 2, Co-Ha. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02502-9, S. 434–437.
  4. a b Jason Lustig: Archival Totality in the Gesamtarchiv der deutschen Juden. In: derselbe, A Time to Gather, Kapitel 1, S. 20–51, hier S. 44–51.
  5. Jason Lustig: Who Are to Be the Successors of European Jewry? The Restitution of German Jewish Communal and Cultural Property. In: Journal of Contemporary History. Band 52, Nr. 3, 2017, S. 519–545, doi:10.1177/0022009416647116.
  6. Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland. In: zentralarchiv-juden.de. Abgerufen am 30. August 2025.
  7. Abraham J. Peck: Archives [partim]. Volume 2, Alr-Az. In: Fred Skolnik, Michael Berenbaum (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica Second Edition. Thomson Gale, Farmington Hills, MI 2007, ISBN 978-0-02-865930-5, S. 402–418 (hier S. 407-408).