Gertrud Lincke
Gertrud Magdalena Lincke (geboren 6. Juni 1888 in Dresden, Deutsches Reich; gestorben 7. Oktober 1976 in Dresden, DDR) war eine deutsche Architektin.[1] Sie setzte sich für Rationalisierung im Wohnungsbau und angemessene Wohnungen für alleinstehende und berufstätige Frauen ein und zählt zu den Pionierinnen der deutschen Architektur.[2]
Leben
Lincke war Tochter des promovierten Oberstudienrats Ernst Martin Lincke und seiner Ehefrau Marie Magdalene Lincke, geborene Opitz. Ab 1908 gehörte Gertrud Lincke der (kurz zuvor eingerichteten) Schülerinnenabteilung der Königlich Sächsischen Kunstgewerbeschule in Dresden an. Zu ihren Lehrenden gehörte Margarete Junge.[3] 1915 endete der geschlechtertrennende Unterricht und sie konnte in die Klasse für Raumkunst und Innenarchitektur wechseln. Vermutlich 1917 verließ sie die Kunstgewerbeschule.[4]
Als Architektin engagierte sich Gertrud Lincke für die Rationalisierung im Wohnungsbau, wobei sie die Finanzierbarkeit von Wohnungen im Auge hatte. Sie reflektierte die Situation von berufstätigen Frauen, die sich für Familien konzipierte Wohnungen alleine nicht leisten konnten. Die Architekturhistorikerin Kerstin Dörhöfer nennt Lincke in einem Atemzug mit Eileen Gray und Margarete Schütte-Lihotzky und würdigt insbesondere ihre modularen Grundrissarbeit und die Entwurfspraxis für alleinstehende Frauen.[5][6]
Lincke entwickelte Bebauungspläne für Siedlungen, beschäftigte sich mit unterschiedlichen Wohnhaustypen, erstellte Entwürfe für Reihenhäuser und Einfamilienhäuser und lieferte Kalkulationen für eine möglichst rationale Bauweise. Sie wandte den in den 1920er Jahren aufkommenden Stahlfachwerkbau an, orientierte sich an funktionaler Raumgestaltung und klarer Fassadengestaltung. Sie nutzte flexible Zwischenwände für eine variable Raumnutzung. Während die übliche Raumaufteilung für Frauen keinen anderen Raum als die Küche vorsah, berücksichtigte Lincke in größeren Häusern sowohl für den Mann als auch für die Frau einen gleich großen Arbeitsraum. Mit beiden Räumen konnte das Wohnzimmer flexibel erweitert werden. Ebenso konnten die Schlafzimmer im oberen Stockwerk vergrößert und verkleinert werden. Dabei ermutigte sie Frauen auch, sich ein entsprechendes Wohnhaus gemeinsam zu bewohnen teilen.
Zitat
„Wenn drei Einzelpersonen sich zu einem solchen Bau vereinigten, so würden sie für den monatlichen Preis von 17 M. außer einem eigenen Zimmer noch zur gemeinsamen Benutzung einen Eß- und Wohnraum, eine Küche, ein Bad und Nebenräume zur Verfügung haben. Es besteht also auch für Einzelpersonen die Möglichkeit, sich ein Heim zu gründen.“
Gertrud Lincke entwickelte in diesem Zusammenhang die Idee der Stiftung „Frauenwohnungshilfe“, für die sie in der Zeitschrift Die Frau warb. Hierbei handelte es sich um eine Art Bausparkasse, über die Frauen in die Lage versetzt wurden, bezahlbar wohnen zu können.[8] Die Stiftung Frauenwohnungshilfe war Bauherrin des bedeutendsten von Lincke realisierten und bis heute erhaltenen Gebäudes, des Rentnerinnenheims in der Gabelsbergerstraße, das 1928 im Beisein der Stiftungsvorsitzenden Doris Hertwig-Bünger eingeweiht[9] und 1931[10] erheblich erweitert wurde.

Für diese gestaffelte Wohnanlage entwarf Lincke den Typus einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die für alleinstehende Frauen in finanziell gesicherten Verhältnissen gedacht war. Entsprechende Grundrisse ließen sich nicht nur im Neubau, sondern auch bei Umnutzung bestehenden Wohnraums anwenden. Die Architekturhistorikerin Despina Stratigakos zog Parallelen zum Haus in der Sonne, das die Architektin Emilie Winkelmann ab 1913 für die Genossenschaft der Frauenheimstätten in Babelsberg schuf.
Walter Müller-Wulckow veröffentlichte 1930 in einem seiner populären Bildbände eine von Lincke gestaltete Inneneinrichtung im Rentnerinnenheim, platzsparend dank Bettnische und Einbauschrank.[11]
Das Dresdener Stadtarchiv weist verschiedene Projekte nach, für die sich Nanda Krantz und Doris Hertwig-Bünger als Akteurinnen der Frauenwohnungshilfe engagierten, jeweils mit Gertrud Lincke als Architektin.
Gertrud Lincke wurde 1935 Mitglied des Bundes Deutscher Architekten (BDA).[12]
1938 nahm sie im Dresdner Rathaus an einer GEDOK-Ausstellung teil. In den Adressbüchern der Stadt erschien sie mit Berufsbezeichnung und der Adresse Angelikastraße 13, 1. Stock noch 1941. Im selben Haus wohnten ihre Eltern. Ihre Mutter starb 1940, der Vater 1944.
Bauten und Entwürfe (Auswahl)
- 1920: Wettbewerbsentwurf eines Bebauungsplans für ein Gelände in Dresden-Neustadt (prämiert mit dem 3. Preis). Ein 1. und 2. Preis wurden nicht vergeben.[13]
- 1923: zwei Wettbewerbsentwürfe für ein Projekt in Bitburg (Eifel) (ein 2. und ein 4. Preis)[13]
- 1926: Einfamilienreihenhaus[14]
- 1927: Einfamilienhaus[14]
- 1928: Modell für eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Rentnerinnenheim, realisiert in der Gabelsbergerstraße in Dresden.
- 1931: Erweiterung Rentnerinnenheim.
Schriften
- Wohnungsbau und Hausfrauen. In: Die Frau. Band 33, Nr. 10, Juli 1926, S. 607–611.
- Wohnungsbau. In: Die Frau. Band 33, Nr. 11, August 1926, S. 673–679. Za 583-33.1925/26
- Frauenwohnungshilfe. In: Die Frau. Band 34, Nr. 9, 1927, S. 538–543. Za 583-34.1926/27
- Über die Mitarbeit der Frauen bei der Aufgabe: Wie schafft man billige und gesunde Wohnungen? In: Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur. Band 22, Nr. 7, 1926, S. 204–210.
- Deutsche Stahlbauweise – Ein Weg zur Verbilligung des Wohnhausbaues. In: Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur. Band 23, Nr. 2, 1927, S. 48–51.
Literatur
- Corinna Isabel Bauer: Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen. Genderaspekte im Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne. Dissertation. Universität Kassel, 2003 (uni-kassel.de [PDF]).
- Kerstin Dörhöfer: Pionierinnen in der Architektur. Eine Baugeschichte der Moderne. Ernst Wasmuth, Tübingen 2004, ISBN 3-8030-0639-2.
Weblinks
- Gertrud Lincke (1888–1976). Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), abgerufen am 13. Januar 2022.
- Lincke, Gertrud. In: Deutsche Biographie (Index-Eintrag); abgerufen am 13. Januar 2022.
Einzelnachweise
- ↑ Gertrud Lincke (1888–1976). Sächsische Biografie, abgerufen am 12. Januar 2023.
- ↑ Kerstin Dörhöfer: Pionierinnen in der Architektur. S. 61–62.
- ↑ Claudia Quiring: Städtebau, Soziales und Stahl – Die Dresdner Architektin Gertrud Lincke, in: Claudia Quiring und Hans-Georg Lippert (Hrsg.), Stadtmuseum Dresden: Dresdner Moderne 1919–1933 – neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen, Sandstein Verlag, Dresden, 2019, ISBN 978-3-95498-464-0
- ↑ https://www.smow.com/blog/2024/04/grassimesse-leipzig-1920-compact-gertrud-lincke-interior-design-and-furniture/ Grassimesse Leipzig 1920 Compact: Gertrud Lincke - Interior Design and Furniture, Engl. Beitrag auf dem Blog der Möbelhandelmarke smow, 17.04.2024. (Zugriff: 27.08.2025)
- ↑ Kerstin Dörhöfer: Pionierinnen in der Architektur – Eine Baugeschichte der Moderne, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen, Berlin, 2004, ISBN 3-8030-0639-2, S. 59 ff
- ↑ Corinna Isabel Bauer: Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen. (PDF) S. 41–42, abgerufen am 13. Januar 2022.
- ↑ Kerstin Dörhöfer: Pionierinnen in der Architektur., Berlin 2004, S. 63, Fn. 198.
- ↑ Corinna Isabel Bauer: Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen. S. 47.
- ↑ Das Rentnerinnenwohnheim der Frauenwohnungshilfe – Die Einweihungsfeier, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Dezember 1928, S. 5
- ↑ Weihe des Neubaus der Dresdner ‚Frauenwohungshilfe‘, in: Dresdner Nachrichten, Nr. 435, 16. September 1931, S. 5
- ↑ Walter Müller-Wulckow (Hrsg.): Die deutsche Wohnung der Gegenwart. (= Die Blauen Bücher) K. R. Langewiesche, Königstein im Taunus / Leipzig, 1930, S. 50.
- ↑ Corinna Isabel Bauer: Bauhaus- und Tessenow-Schülerinnen. S. 278.
- ↑ a b Ulrich Bücholdt: Frauen in der Architektur vor 1945. Abgerufen am 12. Januar 2023.
- ↑ a b Kerstin Dörhöfer: Pionierinnen in der Architektur. S. 178.