Gebärstreik
Unter einem Gebärstreik wird eine ureigene weibliche Widerstandsform verstanden. Die Gebärverweigerung bezieht sich auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und ist folglich mit politischen Forderungen verbunden. Bereits in der Antike greift Aristophanes diese Widerstandsform von Frauen in seiner Erzählung der Lysistrata auf, die den Gebär- und Sexualstreik als ein pazifistisches Kampfmittel gegen den von Männern geführten Krieg und das von ihnen verursachte Leid ausruft. Im weiteren Sinne wird der Begriff jedoch auch als politisches Schlagwort für den seit den 1990er Jahren intensivierten Geburtenrückgang verwendet.
Der Gebärstreik wird von einem philosophisch motivierten Antinatalismus unterschieden, bei dem sich Menschen (unabhängig vom Geschlecht) bewusst gegen Kinder entscheiden. In diesem Bereich fällt auch die Birth-Strike-Bewegung, deren Anhänger den Klimawandel als Bedrohung für kommende Generationen empfinden und durch bewusste, eigene Kinderlosigkeit einen Beitrag zur Einsparung von Ressourcen leisten möchten.[1]
Geschichte
Verwendet wurde der Begriff erstmals 1892, als die Feministin Marie Huot auf einer Konferenz zur „grève des ventres“ aufrief, zum Gebärstreik. Die französischen Neo-Malthusianer um Paul Robin glaubten daraufhin, ein Mittel gefunden zu haben, um die Gesellschaftsstruktur im Klassenkampf umzuwälzen: „Durch eine Beschränkung der Geburten würde die Ausbeutung der Arbeiterschaft automatisch zurückgehen, da weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stünden. Die Löhne würden zwangsläufig steigen.“[2]
1913 kam es zu einer Debatte in der deutschen und französischen Arbeiterbewegung um einen Gebärstreik als politisches Kampfmittel. Diskutiert wurde vor dem Hintergrund einer noch geächteten Geburtenkontrolle, ob es für Arbeiterfamilien mit weniger Kindern leichter möglich sei, an einem Kampf gegen den Kapitalismus teilzunehmen. Dazu sollte Empfängnisverhütung eingesetzt werden. Clara Zetkin sprach sich in der Gebärstreikdebatte klar gegen Geburtenkontrolle aus,[3] da die Arbeiterklasse in ihrem Befreiungskampf auf Masse angewiesen sei. Rosa Luxemburg unterstützte diesen Standpunkt. Die Ärzte Fritz Brupbacher, Alfred Bernstein und Julius Moses unterstützten den Gebärstreik und sahen ihn als geeignetes politisches Mittel, um sozialstaatliche Forderungen nach besserem Mutter- und Säuglingsschutz zur Geltung zu bringen.[4]
Am 18. Februar 1917 lehnte das preußische Abgeordnetenhaus während einer Debatte über die Familiensituation den Aufruf der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft ab, einen Gebärstreik zu organisieren. Sie wollte damit die Geburt zukünftiger Soldaten verhindern.
Heute ist das innovativ wirkende Südkorea das Land mit der niedrigsten Geburtenrate, weil die Frauen die gesellschaftlichen Strukturen als „patriarchalisch und zutiefst ungerecht“ empfinden.[5]
Siehe auch
Literatur
- Anna Bergmann: Frauen, Männer, Sexualität und Geburtenkontrolle. Die Gebärstreikdebatte 1913 in Berlin. In: Karin Hausen (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Beck’sche schwarze Reihe; Bd. 276). Beck, München 1983, S. 81–108, ISBN 3-406-09276-4.
- Anna Bergmann: Am Vorabend einer neuen Sexualmoral? Die Debatte um den „Gebärstreik“ im Jahr 1913. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2013-2, S. 90–97, ISSN 2191-995X.
- Malte König: Geburtenkontrolle. Abtreibung und Empfängnisverhütung in Frankreich und Deutschland, 1870–1940. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 38 (2011), S. 127–148.
- Karin Kozuch: Zwischen Gebärzwang und Zwangssterilisation. Die bevölkerungspolitische Debatte in der internationalen Frauenbewegung (Publikationen der Schwarzen Witwe. Autonome Frauenforschungsstelle; Bd. 2). Unrast Verlag, Münster, 1999, ISBN 3-928300-90-3.
- Ulrich Linse: Arbeiterschaft und Geburtenentwicklung im Deutschen Kaiserreich von 1871. In: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 205–271, ISSN 0066-6505.
- Elternzeit - Gebärstreik (Dossier). In: EMMA, 2001, Juli/August.
- Dieter Nelles: Anarchosyndicalism and the Sexual Reform Movement in the Weimar Republic. Written for the workshop „Free Love and the Labour Movement“, Second workshop in the series „Socialism and Sexuality“. International Institute of Social History, Amsterdam, 6. Oktober 2000. (PDF)
- Francis Ronsin: La grève des ventres. Propagande néo-malthusienne et baisse de la natalité en France (XIXe-XXe siècle), Paris, 1980.
- Karl Heinz Roth: Kontroversen um Geburtenkontrolle am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Eine Dokumentation zur Berliner „Gebärstreikdebatte von 1913“. In: Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Bd. 9 (1978), ISSN 0341-3640
- Gebärstreik gegen Atomkraft. Ein Offener Brief. In: analyse & kritik Nr. 273 vom 25. August 1986, ISSN 0945-1153
Weblinks
- Anarchosyndicalism and the Sexual Reform Movement in the Weimar Republic. (PDF-Datei; 92 kB)
- Im Land der Schrumpfgermanen - Die Geopolitik der Massen: Was steckt hinter der Hysterie vom Bevölkerungsrückgang? Telepolis
- Gebärstreikdebatte. Mit Rosa gegen die Frauenbewegung
- Die Abtreibungspraxis im deutschen Kaiserreich (Digitales Deutsches Frauenarchiv)
Einzelnachweise
- ↑ „Birth-Strike-Movement“. Besseres Klima durch weniger Menschen? Deutschlandfunk, aufgerufen am 14. Februar 2022
- ↑ Malte König: Geburtenkontrolle. Abtreibung und Empfängnisverhütung in Frankreich und Deutschland, 1870–1940 ( des vom 12. April 2018 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 38 (2011), S. 134.
- ↑ Anna Bergmann: Gebärstreik in der Sozialdemokratie. In: Dies.: Die verhütete Sexualität. Die Anfänge der modernen Geburtenkontrolle, Hamburg 1992, S. 286–294, ISBN 3-89136-452-0; Robert Jütte: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart (Beck’sche Reihe; Bd. 1511). Beck, München 2003, ISBN 3-406-49430-7, S. 253–257.
- ↑ Anneke Kuhn (Hrsg.): Die Chronik der Frauen. Chronik Verlag, Dortmund 1992, ISBN 3-611-00195-3, S. 415.
- ↑ Katharina Graça Peters: Gebärstreik in Südkorea: Kinder? Ohne mich. Spiegel Online, 7. März 2020, abgerufen am 10. März 2020.