Falschbehauptungen über von der Hamas getötete Babys

Falschbehauptungen über von der Hamas getötete Babys fanden im Rahmen der Berichterstattung und des öffentlichen Diskurses über den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 weite Verbreitung. Eine Journalistin des israelischen Senders i24news hatte am 10. Oktober live vor Ort im Kibbuz Kfar Aza über Aussagen von israelischen Soldaten berichtet, denen zufolge dort Babys enthauptet worden seien. Die Leichen von 40 Babys seien auf Bahren abtransportiert worden. Beides erwies sich später als falsch. Wie die israelische Zeitung Haaretz im Dezember 2023 und Le Monde im April 2024 berichteten, wurden laut der amtlichen Liste ziviler Opfer in Israel insgesamt zwei Babys bei dem Terrorangriff erschossen.[1][2][3]

Ersthelfer der jüdisch-ultraorthodoxen Freiwilligen-Organisation ZAKA und israelische Soldaten berichteten als Erste über enthauptete oder auch verbrannte Babys und schilderten traumatisierende Szenen in den Kibbuzim. Einerseits benutzte die israelische Regierung die Situation zu propagandistischen Zwecken, andererseits behaupteten propalästinensische Influencer sowie prorussische und verschwörungstheoretische Kreise, Berichte über große Zahlen ermordeter israelischer Zivilisten seien ebenfalls falsch.[4]

Manche israelische Sprecher und Botschaften verbreiteten die Meldungen von Kfar Aza als Fakt; andere Stellen wollten sie nicht bestätigen. Inkorrekte Informationen über 40 getötete, teils enthauptete Babys erschienen in Schlagzeilen und viralen Posts und wurden weltweit von führenden Politikern wiederholt.[5][6][3][7][6] Der Deutsche Presserat stellte 2024 fest, dass eine Boulevardzeitung ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe, nachdem sie Kfar Aza als den „Ort, an dem Hamas 40 Babys und Kinder abgeschlachtet hat. Geköpft.“ beschrieben hatte.

Zeitlicher Ablauf

Erste Meldungen

Die Geschehnisse im Kibbuz Kfar Aza wurden unter anderem laut Recherchen von Le Monde von Nicole Zedek, Korrespondentin des israelischen Senders i24news, kommentiert. Am 10. Oktober zitierte sie live vor Ort in Kfar Aza israelische Soldaten, die von enthaupteten Babys berichtet hätten. Kurz darauf behauptete sie, von einem der Kommandanten erfahren zu haben, dass „etwa 40 Babys“ auf Bahren abtransportiert worden seien. Von enthaupteten Frauen und Kindern berichtete auch ihr Kollege Maël Benoliel vom selben Sender; der CNN-Journalist Nic Robertson sprach von „Männern, Frauen, Kindern, mit gefesselten Händen, erschossen, hingerichtet, enthauptet“. Zwei andere Journalisten, die an derselben Medientour teilgenommen hatten – Oren Ziv und Samuel Forey – erklärten dagegen am nächsten Tag, ihnen sei nichts von enthaupteten Babys berichtet worden.[4][8]

Die Berichte über enthauptete Babys in Kfar Aza gingen viral und wurden innerhalb weniger Stunden mehr als 44 Millionen Mal auf X angesehen und oft geteilt: unter anderem vom israelischen Regierungssprecher Eylon Levy, ebenso vom offiziellen Account der israelischen Regierung, hier mit dem Begleittext „40 Babys ermordet“.[4][9] Der Post der israelischen Regierung brachte es zwei Tage später bereits auf 18 Millionen Views.[10] Am Abend des 10. Oktobers meldete eine französische i24news-Fernsehmoderatorin die Enthauptung von 40 Babys in Kfar Aza.[4][11] Gleichzeitig berichtete Agence France-Presse nur von zwei getöteten Kindern in Kfar Aza; diese Zahl erwies sich später als korrekt und korreliert mit der amtlichen Zählung der Todesopfer, der zufolge in Kfar Aza zwei Brüder im Teenageralter zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihren Eltern im Bett erschossen worden waren.[4] Ebenfalls am Abend des 10. Oktobers räumte die israelische Armee in einem Interview mit der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu erstmals ein, sie habe „keine Details oder Bestätigungen“ zu den Behauptungen über von der Hamas geköpfte Babys. Noch am selben Abend erschienen die ersten Schlagzeilen für Zeitungen des folgenden Tags online; die britische Metro beispielsweise titelte „40 Babys von Hamas ermordet“, die britische Times, Hamas habe „Babys die Kehlen durchschnitten“.[1][12][13][14]

Meldungen und Reaktionen an den folgenden Tagen

Am 11. Oktober schrieb der amerikanische Schauspieler Noah Schnapp, der 25 Millionen Instagram-Follower hat, auf der Plattform: „40 Babys wurden von der Hamas vor den Augen ihrer Eltern enthauptet und lebendig verbrannt.“[15] Propalästinensische Accounts kritisierten die Meldungen als unzureichend gesichert und Hasbara-Propaganda.[4]

Am selben Tag erklärte der amerikanische Präsident Joe Biden in Washington in einem Gespräch mit Vertretern jüdischer Gemeinden: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Bilder von Terroristen, die Kinder enthaupten, sehen ... bestätigt bekommen würde.“[1][16][17] Schon am 12. Oktober 2023 kamen Zweifel an der Belastbarkeit der Behauptungen auf.[18] Die Berliner Morgenpost berichtete, dass der israelische Militärsprecher Richard Hecht die Enthauptungen nicht bestätigen konnte. Die US-Regierung musste zugeben, dass Präsident Biden sich auf Medienberichte und die Aussagen einer Pressesprecherin von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verlassen hatte.[18][19] Der US-Regierung lägen keine entsprechenden Berichte oder Bilder vor.[20] Veröffentlichte Faktenchecks beschrieben die Meldungen meist als „nicht verifiziert“ oder „unbestätigt“.[21]

Offizielle israelische Stellen befolgten keine einheitliche Linie. Manche Sprecher und Botschaften verbreiteten die Meldung als Fakt, andere israelische Stellen wollten die Meldung nicht bestätigen. Das israelische Außenministerium teilte unverifizierte Bilder, die verbrannte Säuglinge zeigen sollten, und löschte sie später wieder.[4]

Zeitgleich wurden verwandte Berichte verbreitet, die sich später gleichfalls als falsch herausstellten. So erklärte Yossi Landau, ein Regionalleiter der religiös orthodoxen Organisation freiwilliger Nothelfer ZAKA, am 11. Oktober gegenüber CBS News, geköpfte Babys und Kinder mit eigenen Augen gesehen zu haben.[22] Landau berichtete außerdem von einer getöteten schwangeren Frau, deren Fötus ihr aus dem Bauch geschnitten worden sei.[23][24] Online wurde ein Video verbreitet, das diesen grausamen Mord zeigen sollte, aber von einer anderen Begebenheit in einem anderen Land stammte.[2][25] Die Tötung der schwangeren Frau wurde auch von israelischen Sprechern aufgegriffen.[25] Sie sollte sich im Kibbuz Be’eri ereignet haben, was der Kibbuz selbst als falsch bezeichnete und später von ZAKA ebenfalls als widerlegt bezeichnet wurde.[2][26] Landau hielt trotzdem an dieser Erzählung fest.[24][27]

Am 12. Oktober bestätigte die Jerusalem Post, dass auf Grundlage „verifizierter Fotos“ die Berichte über verbrannte und geköpfte Babys in Kfar Aza korrekt seien und dass die Hamas die entsprechenden Anschuldigungen in einem Video zurückgewiesen habe.[28] Der Tagesspiegel schrieb darauf, dass es laut Jerusalem Post nun Fotos gebe, „die geköpfte Kinder zeigen.“ Die Fotos seien außerdem dem US-Außenminister Antony Blinken bei dessen Besuch im Büro des Premierministers durch die Direktion für öffentliche Diplomatie gezeigt worden.[20]

Das amerikanische Online-Magazin Slate schrieb am 13. Oktober 2023, die Gerüchte dienten dem Zweck, Palästinenser insgesamt zu entmenschlichen und es so akzeptabler zu machen, dass nun im Gazastreifen Dutzende Kinder unter israelischen Bomben stürben.[29] Der progressive Medien-Watchdog Fairness & Accuracy in Reporting (FAIR) urteilte am 20. Oktober 2023, Medien seien sehr unverantwortlich mit den unverifizierten Meldungen umgegangen.[30][31]

Aufarbeitung

Anlässlich einer erneuten Erwähnung geköpfter Babys durch Präsident Biden erwähnte die Washington Post am 22. November 2023, dass es auch in historischen Konflikten wiederholt zu Gräuelberichten über getötete Babys gekommen sei, die sich nachher nicht bestätigen ließen, so etwa britische Propaganda im Ersten Weltkrieg und die Brutkastenlüge im Zweiten Golfkrieg. Zwei separate Aussagen von Zedek – dass Soldaten geköpfte Babys gesehen hätten und dass 40 Babys getötet worden seien – seien in den sozialen Medien schnell zu der Aussage verschmolzen, dass 40 Babys geköpft worden seien. Der israelische Reporter Oren Ziv hätte dagegen schon im Rahmen desselben Pressebesuchs in Kfar Aza zur Vorsicht hinsichtlich der Berichte über geköpfte Säuglinge gemahnt: „Während des Pressebesuchs haben wir keine Anzeichen davon gesehen, und auch der Armeesprecher oder die Kommandeure haben keine derartigen Vorfälle erwähnt.“ Der Desinformationsforscher Marc Owen Jones konstatierte, Posts auf X über „40 ermordete Babys“ hätten innerhalb eines Tages mindestens 44 Millionen Aufrufe, 300.000 Likes und über 100.000 Wiederholungen erhalten.[8][9]

Im November 2023 von Israel organisierte Veranstaltungen für Journalisten und Diplomaten, bei denen unzensierte Videomaterialien der Terrorangriffe gezeigt wurden, enthielten keine Bilder von enthaupteten Kindern.[32]

Am 4. Dezember 2023 veröffentlichte Haaretz die Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung der Gewalt vom 7. Oktober. Basierend auf amtlichen Listen der Todesopfer seien bei dem Terrorangriff am 7. Oktober in Wirklichkeit genau zwei israelische Babys getötet worden. Das eine war Mila Cohen, ein zehn Monate altes Baby, das in Be'eri in den Armen seiner Mutter an einer Schussverletzung starb, als Terroristen durch die Tür des Schutzraums der Familie feuerten.[2][33] Das andere war das Baby einer hochschwangeren Beduinin, die auf dem Weg zur Entbindung im Krankenhaus war, als ihr Auto von Terroristen beschossen wurde. Sie wurde im Bauch getroffen. Im Krankenhaus konnte ein lebendes Mädchen entbunden werden, dieses starb jedoch kurz nach der Geburt.[34][2] Netanjahus Behauptung gegenüber Biden, die Hamas habe „Dutzende von Kindern genommen, gefesselt, verbrannt und hingerichtet“, habe sich als falsch erwiesen; es gebe „keine Beweise dafür, dass Kinder aus mehreren Familien gemeinsam ermordet wurden“. Ein Armeeoffizier hatte von an Wäscheleinen aufgehängten Babys gesprochen, was ebenfalls erfunden gewesen sei. Haaretz berichtete von echten Gräueltaten durch Hamas-Terroristen an diesem Tag. Leichen – insbesondere von Soldaten – seien geschändet worden, auch Enthauptungen und Verstümmelungen habe es nachweislich gegeben. Einige extreme Taten seien jedoch erfunden worden, was nun dazu benutzt würde, die Ereignisse des 7. Oktobers generell zu leugnen.[2]

Agence France-Presse kam am 15. Dezember 2023 ebenso wie Haaretz zu dem Schluss, dass die von Israels offiziellem X-Account veröffentlichte, auf dem i24news-Bericht beruhende Behauptung über 40 in Kfar Aza getötete Säuglinge nicht mit der amtlichen, online veröffentlichten Liste der Todesopfer vereinbar war. Das jüngste Todesopfer in Kfar Aza sei 14 Jahre alt gewesen. Auch eine Aussage von Oberst Golan Vach, dem Leiter der Such- und Rettungseinheit der Armee, sei fragwürdig geworden. Vach hatte am 27. Oktober 2023 einer Gruppe von Journalisten, darunter einem AFP-Reporter, gesagt, er habe persönlich ein enthauptetes Baby abtransportiert, das in den Armen seiner toten Mutter im Kibbuz Be'eri gefunden wurde. Auch dies deckte sich nicht mit der amtlichen Liste, die außer Mila Cohen, deren Mutter überlebte, kein weiteres Baby enthielt. Armeesprecher reagierten nicht auf Anfragen von AFP.[35][36]

Am 5. Juni 2024 veröffentlichte Yossi Bartal in der taz einen Artikel über Meldungen angeblicher Gräueltaten an Kindern. Er kam zu dem Schluss, dass nicht nur Berichte über geköpfte Babys, sondern auch erfundene Geschichten über in Öfen verbrannte Babys, über gefolterte Kinder und eine schwangere Frau, deren Baby ihr aus dem Bauch geschnitten worden wäre, teils von hochrangigen Stellen wie dem US-Präsidenten Joe Biden verbreitet worden seien. Medien hätten diese Geschichten reproduziert, und viele Artikel mit „nachweislich falschen Behauptungen“ seien weiterhin online abrufbar. Bartal merkte zudem an, dass deutsche Politiker die Falschmeldung über Babys noch weit über deren Aufklärung hinaus verbreiteten. So sagte der Bundestagsabgeordnete Marcus Faber (FDP) am 21. März 2024 im Bundestag, in der Aktuellen Stunde zur Lage in Israel und den Palästinensischen Gebieten, unwidersprochen: „Es wurden zum Beispiel 40 Babys getötet auf brutalste Art und Weise, teilweise bei lebendigem Leib ins Feuer geschmissen, während ihre Mütter dabei zugucken mussten.“[34][37] Am 10. Oktober 2024 erzählte der Bundestagsabgeordnete Dietmar Bartsch (Die Linke) im Deutschen Bundestag davon, in der israelischen Botschaft Videos geköpfter Babys gesehen zu haben.[38]

Analyse

Le Monde erwähnte in einer detaillierten, am 3. April 2024 veröffentlichten Recherche mögliche Gründe für die Entstehung der von ZAKA-Ersthelfern und Soldaten ausgehenden Falschmeldungen. Die Nothelfer der ZAKA-Organisation hätten viele durch Geschosse, Explosionen und Feuer bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichen vorgefunden. Ohne medizinische Ausbildung hätten sie das Alter von Opfern manchmal falsch beurteilt. Ein Mitglied der ZAKA-Organisation sagte: „Die Rettungskräfte sahen so viele Leichen, Leichen von Frauen und Kindern, Körperteile, vielleicht sagten sie Dinge, die sie sich einbildeten.“ Andererseits merkte Le Monde an, einige der Übertreibungen seien makaber gewesen – Yossi Landau hatte behauptet, mit eigenen Augen enthauptete Babys und Kinder gesehen zu haben – und verwies auf Vorwürfe der israelischen Zeitung Haaretz. Diese hatte die damals in Finanznot befindliche ZAKA-Organisation beschuldigt, die Tragödie zur Eintreibung von Spenden genutzt zu haben.[4][26]

Die Aussagen von Soldaten, insbesondere Reservisten, waren oft unzuverlässig und inkonsistent, was in Le Monde auf eventuell unzulängliche Erinnerungsarbeit zurückgeführt wurde. Zudem wurde in Le Monde vermutet, dass Soldaten bewusst ein besonders düsteres Bild gezeichnet haben könnten. Einige seien von dem Wunsch getrieben worden, die Hamas zu dämonisieren. Ein stellvertretender Kommandeur, der im Westjordanland als radikaler Siedler aufgefallen war und zur Auslöschung eines palästinensischen Dorfes aufgerufen hatte, beschrieb die Angreifer als „Tiere“, die Kindern und Frauen die Köpfe abgeschnitten hätten. Später konnte er sich nicht erinnern, Frauen und Kinder erwähnt zu haben, sagte aber, er habe zwei kopflose männliche Leichen in Kfar Aza gesehen.[4]

Israelischer Diskurs

Der Online-Artikel von i24news selbst blieb mehrere Wochen lang bestehen, auch nachdem eine Reporterin des Senders kritisiert worden war. Am 30. November 2023 wurde der Artikel jedoch korrigiert, und die Erwähnung der 40 Babys wurde gestrichen.[4][39]

Kritiker des Krieges gegen Gaza sehen die Falschmeldung als Beispiel für Gräuelpropaganda und als Beweis dafür, dass Israel während des Gaza-Krieges einen „Krieg gegen die Wahrheit“ führe.[4][9][40] Der Desinformationsforscher Marc Owen Jones wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der israelische Premierminister Netanjahu im Juli 2024 in einer Rede vor dem US-Kongress erneut behauptete, die Hamas hätte Babys bei lebendigem Leib verbrannt und zwei in einem Dachboden versteckte Babys getötet.[9][41] Zudem hätten das israelische Außenministerium und israelische Zeitungen Palästinensern vorgeworfen, Fotos toter Babys in Gaza seien Propagandaaufnahmen von Puppen.[9]

Die Soziologin Nitzan Perelman erklärte im April 2024 gegenüber Le Monde, in Israel selbst gelte es immer noch fast als Holocaustleugnung, zu erklären, es habe die enthaupteten Babys nicht gegeben. Die Menschen glaubten es immer noch. Der israelischen Regierung warf sie eine zynische Nutzung von Tragödien für die Hasbara, Israels Außenkommunikation, vor.[4]

Rolle im internationalen Diskurs zum Israel-Gaza-Krieg

Samuel Forey wies in Le Monde darauf hin, dass das Bild der enthaupteten Babys zwar einem bestimmten israelischen Propagandazweck gedient habe, von seinen Gegnern aber auch dazu gebraucht worden sei, tatsächliche Gräueltaten wie sexuelle Gewalt zu leugnen.[4] Die Terrorismusexpertinnen Mia Bloom (Georgia State University) und Edna Erez (University of Illinois) äußerten die Ansicht, unverifizierte Äußerungen hochrangiger israelischer Beamter gegenüber der internationalen Presse wie die Falschmeldung über geköpfte Babys oder die nicht belegbare Behauptung, dass die Hamas einen Befehl zur Vergewaltigung von Opfern gegeben hätte, seien mit dafür verantwortlich gewesen, dass die im Rahmen des Terrorangriffs erfolgte sexuelle Gewalt längere Zeit geleugnet wurde.[23]

Der Hamas-Sprecher Osama Hamdan verwendete bereits am 13. Oktober 2023 in einem Interview bei Al Jazeera den Tweet Oren Zivs vom 11. Oktober (siehe oben) für die Behauptung, dass die Hamas gar keine Kinder umgebracht hätte. Ziv verwahrte sich gegen diesen Missbrauch seines Posts und stellte noch einmal klar, dass die Hamas sehr wohl Zivilisten und darunter auch Kinder getötet habe.[42]

Laut Le Monde wurde die Falschmeldung auch in der folgenden Zeit noch so genutzt – vom pro-palästinensischen Influencer Suleiman Ahmed über Akteure aus Syrien- oder Russland-nahen Kreisen bis hin zum US-amerikanischen Verschwörungstheoretiker Jackson Hinkle, der behauptete, dass Israel über alles, was am 7. Oktober geschehen sei, gelogen hätte. Zum Teil sei der Diskurs um die Falschmeldung mit Hass auf Israel und Antisemitismus vermischt gewesen.[4]

Die Politologen Darrell M. West und Elaine Kamarck (Brookings Institution) vermuteten, dass der Hoax wahrscheinlich auf israelische Soldaten zurückging. Solche Falschmeldungen seien in Kriegen schon immer als Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Erscheinung getreten.[1] Die Medienwissenschaftlerin Susan D. Moeller (University of Maryland) nannte den Hoax als Beispiel dafür, wie schon die bloße Behauptung einer angeblich durch Bilder belegten Gräueltat ein wirksames Propagandamittel darstellen kann.[5] Der Historiker Juan Cole (University of Michigan) wies auf die vielen brutalen Verbrechen hin, die die Hamas tatsächlich begangen hatte. Das Narrativ der enthaupteten Babys sei aber gerade deswegen eine so überzeugende Kriegspropaganda gewesen, weil jeder, der so etwas tue, ein Wilder und kein zivilisierter Mensch sei. Und im Kampf gegen Wilde sei alles erlaubt.[6] Auch die Rechtswissenschaftlerinnen Tamara Tamimi und Daniela Suárez Vargas von der Queen’s University Belfast sehen die Falschinformation als ein prominentes Beispiel für den „erfolgreichen Einsatz von Propaganda zur Dämonisierung und Entmenschlichung der Palästinenser“. Israelische Propaganda diene dazu, den Siedlerkolonialismus zu ermöglichen und massenhafte Gräueltaten bis hin zum Genozid zu legitimieren.[7]

Stellungnahme des Deutschen Presserats

Die Berichterstattung einer Boulevardzeitung zog eine Beschwerde beim Deutschen Presserat nach sich. Die Zeitung hatte Kfar Aza in einem Kommentar beschrieben als den „Ort, an dem Hamas 40 Babys und Kinder abgeschlachtet hat. Geköpft.“[43]

Im Vorprüfungsverfahren wies der Presserat die Beschwerde zunächst zurück. Danach ergänzte der Beschwerdeführer, dass er keinesfalls anzweifele, dass schreckliche Verbrechen begangen worden seien. Allerdings hätten diese sich nicht so ereignet, wie es die Zeitung dargestellt habe.[43]

In einer Stellungnahme an den Presserat bezeichnete die Boulevardzeitung die Beschwerde als „geschmacklosen Unfug“ und argumentierte, dass der Beschwerdeführer „eine ethische Pflicht der Presse“ etablieren wolle, „bei Massen-Enthauptungen durch anti-israelische und anti-jüdische Barbaren immer haarklein die exakte Anzahl der ‚Geköpften‘“ zu benennen.[43]

Der Presserat stellte schließlich im Jahr 2024 nach Prüfung des Sachverhalts fest, dass die ungenannte Boulevardzeitung Behauptungen israelischer Soldaten übernommen und nicht als Darstellungen einer Konfliktpartei gekennzeichnet habe. Außerdem habe die Boulevardzeitung missachtet, dass es einerseits keine Bestätigung durch „unabhängige Quellen“ gegeben und es „auch von israelischer Seite (...) sich widersprechende Aussagen zur Todesursache“ gegeben habe. Der Presserat stellte einstimmig einen Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht fest.[43]

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b c d Darrell M. West, Kamarck Elaine Kamarck: Lies that Kill: A Citizen´s Guide to Disinformation. Rowman & Littlefield, Washington, D. C. 2024, ISBN 978-0-8157-4073-5, S. 100f.
  2. a b c d e f Nir Hasson, Liza Rozovsky: Hamas Committed Documented Atrocities. But a Few False Stories Feed the Deniers. Haaretz, 4. Dezember 2023, archiviert vom Original; abgerufen am 20. Dezember 2023 (englisch).
  3. a b Pascal Siggelkow, Carla Reveland: Jahrestag des 7. Oktober: Ein Krieg begleitet von Desinformation. In: tagesschau.de. Abgerufen am 5. September 2025.
  4. a b c d e f g h i j k l m n Assma Maad, William Audureau, Samuel Forey: '40 beheaded babies': Deconstructing the rumor at the heart of the information battle between Israel and Hamas. 3. April 2024 (englisch, lemonde.fr [abgerufen am 5. September 2025]).
  5. a b Susan D. Moeller: National Security, Journalism, and Law in an Age of Information Warfare. Hrsg.: Marc Ambinder, Jennifer R. Henrichsen, Connie Rosati. Oxford University Press, 2024, ISBN 978-0-19-775662-1, Weaponizing Images, S. 304–305, doi:10.1093/oso/9780197756621.003.0015 (oup.com [abgerufen am 9. September 2025]).
  6. a b c Juan Cole: A Tale of Two Sets of Dead Babies: The Preemies of Gaza And Imaginary Beheadings. In: Washington Report on Middle East Affairs. Band 43, Nr. 1, 2024 (gale.com – frei zugänglich unter juancole.com).
  7. a b Tamara Tamimi, Daniela Suárez Vargas: Propaganda vs. truth: Israeli propaganda and Palestinian demonisation. E-International Relations, 13. Februar 2024 (e-ir.info [abgerufen am 17. September 2025]).
  8. a b Analysis | Biden yet again says Hamas beheaded babies. Has new evidence emerged? In: The Washington Post. 22. November 2023, ISSN 0190-8286 (washingtonpost.com [abgerufen am 7. September 2025]).
  9. a b c d e Marc Owen Jones: Evidencing alethocide: Israel’s war on truth in Gaza. In: Third World Quarterly. März 2025, ISSN 0143-6597, S. 1–18, doi:10.1080/01436597.2025.2462791.
  10. Stephen McDermott: What′s known about the claim that 40 babies were beheaded by Hamas in Israel? In: The Journal. 12. Oktober 2023, abgerufen am 12. September 2025.
  11. Fact or Fiction? In This War, It Is Hard to Tell. 13. Oktober 2023 (nytimes.com [abgerufen am 15. September 2025]).
  12. Assma Maad, William Audureau, Samuel Forey: '40 beheaded babies': Deconstructing the rumor at the heart of the information battle between Israel and Hamas. 3. April 2024 (englisch, lemonde.fr [abgerufen am 5. September 2025]): “... ‘about 40 babies’ ‘taken away on gurneys’. ... ‘40 babies murdered’ ... Hamas ‘cut the throats of babies’ in massacre ... ‘Men, women, children, hand bound, shot, executed, heads cut’ ... Interviewed by the Turkish news agency Anadolu, the Israeli army said it did not have ‘any details or confirmation’ around the allegations of babies beheaded by Hamas. ... ‘40 babies murdered by Hamas’”
  13. What we actually know about the viral report of beheaded babies in Israel. In: Sky News. Abgerufen am 5. September 2025 (englisch).
  14. Noureddine Miladi: Seeking „permission to narrate“: Debunking the global media reporting of the Israeli War on Gaza and the Palestine exceptionalism. In: Journal of Arab & Muslim Media Research. Band 18, Nr. 1, 2025, S. 3–14, hier 6, doi:10.1386/jammr_00107_2: „Front pages of various UK newspapers, for instance, run unfiltered headlines such as ‚Hamas ‚cut the throat of babies‘ in massacre‘ […], ‚They decapitated women and children‘. This fake story still exists on the Independent newspaper website […]. In the Daily Express we read ‚Horror at ‚pure evil beheading of babies‘‘ […], The Daily Telegraph goes ‚Hamas Massacres babies and children‘ […], and in The Daily Mail, the headline goes ‚This was a holocaust, pure and simple‘ […]“
  15. Sara Swann: What’s known about reports that Hamas ‘beheaded babies’. In: PolitiFact. Poynter Institute, 21. November 2023, abgerufen am 15. September 2025 (amerikanisches Englisch): „40 babies were beheaded and burned alive in front of their parents by Hamas.“
  16. Hamas-Angriff und Gaza: Joe Biden appelliert an Israel, nach den »Regeln des Krieges« zu handeln. In: Der Spiegel. 12. Oktober 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. September 2025]).
  17. The White House: Remarks by President Biden and Second Gentleman Douglas Emhoff at Roundtable with Jewish Community Leaders. In: The White House. 12. Oktober 2023, abgerufen am 8. September 2025 (englisch): „I never really thought that I would see and have confirmed pictures of terrorists beheading children.“
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  19. Maria Sterkl: Babys von Hamas geköpft? Was wir wissen – und was nicht. In: Berliner Morgenpost. 12. Oktober 2023, abgerufen am 5. September 2025.
  20. a b Tristan Fiedler: Hamas-Massaker im Kibbuz Kfar Aza: Fotos sollen verstümmelte Babys zeigen. In: Der Tagesspiegel Online. 12. Oktober 2023, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 5. September 2025]).
  21. Nur Ibrahim: Were Israeli Babies Beheaded by Hamas Militants During Attack on Kfar Aza? In: Snopes. 12. Oktober 2023, abgerufen am 11. September 2025 (englisch): „Unverified reports“
    What we actually know about the viral report of beheaded babies in Israel. In: Sky News. 12. Oktober 2023, abgerufen am 12. September 2025: „not […] verified“
    Roland Peters: Das wissen wir über die ‚enthaupteten Babys‘. In: ntv. 12. Oktober 2023, abgerufen am 12. September 2025: „Das Verifizierungsteam von ntv kann diese Meldung zum Zeitpunkt der Prüfung am Donnerstagnachmittag nicht bestätigen.“
    Maria Sterkl: Babys von Hamas geköpft? Was wir wissen – und was nicht. In: Berliner Morgenpost. 12. Oktober 2023, abgerufen am 5. September 2025: „Tatsächlich gibt es keine eindeutigen Hinweise dafür.“
    dpa: Bislang keine Klarheit über angeblich 40 getötete Babys. In: Zeit. 12. Oktober 2023, abgerufen am 12. September 2025: „weiterhin keine Klarheit über das genaue Ausmaß der Vorfälle“
    Saranac H. Spencer, D'Angelo Gore: What We Know About Three Widespread Israel-Hamas War Claims. In: FactCheck.org. 13. Oktober 2023, abgerufen am 12. September 2025: „Unsupported Claim“
    Sara Swann: How media outlets and politicians amplified uncorroborated reports of beheaded babies in Israel. In: Poynter. 24. Oktober 2023, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 24. Oktober 2023; abgerufen am 12. September 2025: „Uncorroborated reports“
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  37. Deutscher Bundestag - Video. (00:01:22). Abgerufen am 5. September 2025.
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  39. ‘It smells of death here’: Surveying the atrocities committed by Hamas in Kfar Aza. In: i24news. Abgerufen am 8. September 2025.
  40. Marc Edge: Reports of beheaded Israeli babies were bound to be propaganda. In: Canadian Dimension. 8. Oktober 2024, abgerufen am 5. September 2025 (englisch).
  41. FULL TEXT: Netanyahu's 2024 Address to Congress. In: Haaretz. 25. Juli 2024 (haaretz.com).
  42. Oren Persiko: Hamas-Sprecher veröffentlichte ein Falschzitat eines israelischen Journalisten. In: The 7 Eye. 14. Oktober 2023, abgerufen am 15. September 2025.
  43. a b c d Deutscher Presserat (Hrsg.): Hat die Hamas im Kibbuz 40 Babys und Kinder geköpft? Zeitungskommentator stellt widersprüchliche Aussagen zum Massaker als gesichert dar. (presserat.de). Vgl. auch Beschwerdesache 0783/24/2-BA und Beschwerdesache 0119/24/2-BA.