Exekutive Dysfunktion

In der Psychologie und der Neurowissenschaft bezeichnet die exekutive Dysfunktion oder der exekutiver Funktionsdefizit eine Störung der Wirksamkeit von exekutiven Funktionen, einer Gruppe von kognitiven Prozessen zur Regulierung, Kontrolle und Steuerung anderer kognitiver Prozesse.[1] Exekutive Dysfunktion kann sich sowohl auf neurokognitive Defizite als auch auf Verhaltenssymptome beziehen. Sie ist in zahlreichen neurologischen und psychischen Störungen involviert sowie in kurz- und langfristigen Veränderungen der nicht-klinischen exekutiven Kontrolle. Sie kann auch andere kognitive Schwierigkeiten umfassen, wie beispielsweise in der Planung, der Organisation, der Aufnahme von Tätigkeiten und der emotionalen Selbstregulation. Sie ist eine Kerncharakteristik der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und kann zahlreiche andere bekannte Symptome erklären.[2] Extreme exekutive Dysfunktion ist das Kardinalmerkmal des dysexekutiven Syndroms.

Beschreibung

Exekutive Funktionen sind ein theoretisches Konstrukt zur Darstellung des Wirkungsbereichs von kognitiven Prozessen zur Regulierung, Kontrolle und Steuerung anderer kognitiver Prozesse. Exekutive Funktionen sind kein einheitliches Konzept – sie sind eine allgemeine Beschreibung für die Gruppe von Prozessen, die in bestimmten Bereichen der Kontrolle von Kognition und Verhalten involviert sind.[1] Exekutive Prozesse sind wesentlich für höhere Hirnfunktionen, vor allem in den Bereichen der Zielbildung, der Planung, des zielgerichteten Handelns, der Selbstüberwachung, der Aufmerksamkeit, der Hemmungskontrolle und der Koordination von komplexer Kognition und motorischer Kontrolle für effektive Leistungsfähigkeit.[3] Defizite der exekutiven Funktion können in verschiedenem Ausmaß in allen Populationen beobachtet werden, aber starke exekutive Dysfunktion kann tagtäglich verheerende Auswirkungen auf die Kognition und das Verhalten, sowohl in individuellen als auch in sozialen Kontexten, haben.[4]

Exekutive Dysfunktion tritt zu einem geringen Grad kurz- und langfristig in allen Individuen auf. In nicht-klinischen Populationen scheint die Aktivierung exekutiver Prozesse die weitere Akitivierung derselben Prozesse zu hemmen, was nahe legt, dass es einen Mechanismus für normale Schwankungen in der exekutiven Kontrolle gibt.[5] Ein Rückgang der exekutiven Funktionen ist auch verbunden mit dem normalen und dem klinischen Alterungsprozess.[6] Die Abnahme von Gedächtnisprozessen mit dem Alter scheint einen Einfluss auf die exekutiven Funktionen zu haben, was ebenfalls auf die allgemeine Rolle des Gedächtnisses für die exekutiven Funktionen hinweist.[7]

Exekutive Dysfunktionen scheint mit regelmäßigen Unterbrechung in handlungsorientiertem Verhalten einherzugehen, für welches exekutive Kontrolle zur Hemmung von gewohnheitsmäßigen Reaktionen und Zielaktivierung benötigt wird.[8] Diese exekutive Kontrolle ist für effektives Verhalten verantwortlich, indem sie das Verhalten so anpasst, dass Veränderungen in der Umgebung mit den eigenen Zielen vereinbart werden.[9] Beeinträchtigungen der kognitiven Flexibilität ist ein beträchtliches Merkmal der exekutiven Dysfunktion – kognitive Flexibilität ist die kognitive Fähigkeit, basierend auf sich verändernden Zielen und Umweltreize dynamisch den Fokus zwischen Fixierungspunkten zu wechseln.[10] Dies liefert eine sparsame Erklärung für das häufige Auftreten von impulsivem, hyperaktivem, disorganisiertem und aggressivem Verhalten in klinischen Patienten mit exekutiver Dysfunktion. Eine Studie aus 2011 belegt, dass exekutive Dysfunktion mit einem Mangel an Selbstbeherrschung, höherer Impulsivität und höherer Disorganisation einhergeht, was zu aggressivem Verhalten beiträgt.[11]

Exekutive Dysfunktion, vor allem in der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, kann auch in verschiedenem Ausmaß zu emotionaler Dysregulierung führen, was sich in Form von chronischer Depression, Angststörung oder Hochsensibilität äußern kann.[12] Russell Barkley schlug ein hybrides Modell für die Rolle von Verhaltensenthemmung in der Präsentation von ADHS vor, welches als Grundlage für einen Großteil der Forschung über ADHS und über die umfassenderen Auswirkungen des exekutiven Systems dient.[13]

Andere häufige und charakteristische Symptome der exekutiven Dysfunktion umfassen unter anderem das sogenannte "utilization behaviour" – die zwanghafte Manipulation oder Nutzung von Objekten in der nahen Umgebung ohne funktionalen Grund – sowie das Imitationsverhalten – die Tendenz, primär durch Nachahmung sozial zu interagieren.[14] Die Forschung legt auch nahe, dass der exekutive Aufgabenwechsel neben dem episodischen Gedächtnis ein Mitvermittler der Genauigkeit des sogenannten "feeling-of-knowing" (FOK) ist, sodass exekutive Dysfunktion womöglich die FOK-Genauigkeit reduzieren kann.[15]

Es gibt einige Anhaltspunkte die suggerieren, dass exekutive Dysfunktion neben den negativen Auswirkungen auch Vorteile hervorbringen kann. Abaham et al.[16] zeigten, dass kreatives Denken bei Schizophrenie durch exekutive Dysfunktion begünstigt wird. Sie etablierten eine feste Ätiologie für Kreativität bei Psychotizismus, indem sie eine kognitive Präferenz für breiteres "top-down", assoziatives Denken über zielgerichtetes Denken aufzeigten, was den Aspekten von ADHS sehr stark ähnelt. Es wird vorausgesetzt, dass, aufgrund der Überlappung von Dopamin, Elemente von Psychose in sowohl ADHS als auch Schizophrenie / Schizotypie präsent sind.[17]

Komorbidität

Flexibilitätsprobleme hängen mit höherer Wahrscheinlichkeit mit Angststörungen zusammen,[18] und Probleme der Metakognition mit Depressionen.[19]

Einzelnachweise

  1. a b Elliott R: Executive functions and their disorders. In: British Medical Bulletin. 65. Jahrgang, Nr. 1, März 2003, S. 49–59, doi:10.1093/bmb/65.1.49, PMID 12697616 (englisch).
  2. Becky Spelman: Mother Wound: Understanding Its Impact on Men and Woman. 16. Oktober 2023; (englisch).
  3. Jurado MB, Rosselli M: The elusive nature of executive functions: a review of our current understanding. In: Neuropsychology Review. 17. Jahrgang, Nr. 3, September 2007, S. 213–233, doi:10.1007/s11065-007-9040-z, PMID 17786559 (englisch).
  4. Engel-Yeger B, Rosenblum S: Executive dysfunctions mediate between altered sensory processing and daily activity performance in older adults. In: BMC Geriatrics. 21. Jahrgang, Nr. 1, Februar 2021, S. 132, doi:10.1186/s12877-021-02032-0, PMID 33618664, PMC 7898742 (freier Volltext) – (englisch).
  5. Schmeichel BJ: Attention control, memory updating, and emotion regulation temporarily reduce the capacity for executive contro. In: Journal of Psychology. General. Band 136, Nr. 2, Mai 2007, S. 241–255, doi:10.1037/0096-3445.136.2.241, PMID 17500649 (englisch).
  6. Zelazo PD, Craik FI, Booth L: Executive function across the life span. In: Acta Psychologica. Band 115, Nr. 2-3, Februar 2004, S. 167–183, doi:10.1016/j.actpsy.2003.12.005, PMID 14962399 (spanisch).
  7. Bisiacchi PS, Borella E, Bergamaschi S, Carretti B, Mondini S: Interplay between memory and executive functions in normal and pathological aging. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology. Band 30, Nr. 6, August 2008, S. 723–733, doi:10.1080/13803390701689587, PMID 18608665.
  8. Nieuwenhuis S, Broerse A, Nielen MM, de Jong R: A goal activation approach to the study of executive function: an application to antisaccade tasks. In: Brain and Cognition. Band 56, Nr. 2, November 2004, S. 198–214, doi:10.1016/j.bandc.2003.12.002, PMID 15518936.
  9. Verbruggen F, Logan GD: Long-term aftereffects of response inhibition: memory retrieval, task goals, and cognitive control. In: Journal of Experimental Psychology. Human Perception and Performance. Band 34, Nr. 5, Oktober 2008, S. 1229–1235, doi:10.1037/0096-1523.34.5.1229, PMID 18823207.
  10. Avila C, Barrós A, Ortet G, Antònia Parcet M, Ibañez MI: Set-shifting and sensitivity to reward: A possible dopamine mechanism for explaining disinhibitory disorders. In: Cognition & Emotion. Band 17, Nr. 6, November 2003, S. 951–959, doi:10.1080/02699930341000031.
  11. Krämer UM, Kopyciok RP, Richter S, Rodriguez-Fornells A, Münte TF: The role of executive functions in the control of aggressive behavior. In: Frontiers in Psychology. Band 2, Nr. 152, 2011, doi:10.3389/fpsyg.2011.00152, PMID 21747775, PMC 3130185 (freier Volltext).
  12. Schmeichel BJ, Volokhov RN, Demaree HA: Working memory capacity and the self-regulation of emotional expression and experience. In: Journal of Personality and Social Psychology. Band 95, Nr. 6, Dezember 2008, S. 1526–1540, doi:10.1037/a0013345, PMID 19025300.
  13. Barkley RA: Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: constructing a unifying theory of ADHD. In: Psychological Bulletin. Band 121, Nr. 1, Januar 1997, S. 65–94, doi:10.1037/0033-2909.121.1.65, PMID 9000892.
  14. Hoffmann MW, Bill PL: The environmental dependency syndrome, imitation behaviour and utilisation behaviour as presenting symptoms of bilateral frontal lobe infarction due to moyamoya disease. In: South African Medical Journal = Suid-Afrikaanse Tydskrif vir Geneeskunde. Band 81, Nr. 5, März 1992, S. 271–273, PMID 1542821.
  15. Perrotin A, Tournelle L, Isingrini M: Executive functioning and memory as potential mediators of the episodic feeling-of-knowing accuracy. In: Brain and Cognition. Band 67, Nr. 1, Juni 2008, S. 76–87, doi:10.1016/j.bandc.2007.11.006, PMID 18206284.
  16. Abraham A, Windmann S, McKenna P, Güntürkün O: Creative thinking in schizophrenia: the role of executive dysfunction and symptom severity. In: Cognitive Neuropsychiatry. Band 12, Nr. 3, Mai 2007, S. 235–258, doi:10.1080/13546800601046714, PMID 17453904.
  17. Keshavan MS, Sujata M, Mehra A, Montrose DM, Sweeney JA: Psychosis proneness and ADHD in young relatives of schizophrenia patients. In: Schizophrenia Research. Band 59, Nr. 1, Januar 2003, S. 85–92, doi:10.1016/S0920-9964(01)00400-5, PMID 12413647.
  18. Hollocks MJ, Jones CR, Pickles A, Baird G, Happé F, Charman T, Simonoff E: The association between social cognition and executive functioning and symptoms of anxiety and depression in adolescents with autism spectrum disorders. In: Autism Research. 7. Jahrgang, Nr. 2, April 2014, S. 216–228, doi:10.1002/aur.1361, PMID 24737743.
  19. Wallace GL, Kenworthy L, Pugliese CE, Popal HS, White EI, Brodsky E, Martin A: Real-World Executive Functions in Adults with Autism Spectrum Disorder: Profiles of Impairment and Associations with Adaptive Functioning and Co-morbid Anxiety and Depression. In: Journal of Autism and Developmental Disorders. 46. Jahrgang, Nr. 3, März 2016, S. 1071–1083, doi:10.1007/s10803-015-2655-7, PMID 26572659, PMC 5111802 (freier Volltext).