Evolutionäre Ethik
Unter Evolutionärer Ethik versteht man eine Ethik, die ausgehend von dem Paradigma, dass moralisches Verhalten beim Menschen eine spezielle Form des Sozialverhaltens ist, die Gesetzmäßigkeiten dieses Sozialverhaltens (ausschließlich) durch evolutionäre Mechanismen erklärt und begründet. Die evolutionäre Ethik steht in der Tradition der Soziobiologie, grenzt sich aber bewusst vom Sozialdarwinismus ab, der den verloren geglaubten Auslesedruck künstlich (d. h. gesellschaftlich autoritär) wieder erhöhen wollte. Die evolutionäre Ethik erlebt seit Mitte der 1970er-Jahre eine neue Blüte.
Die evolutionäre Ethik ist „eine der wichtigsten Varianten des ethischen Naturalismus“[1].
Die Hauptaussage der evolutionären Ethik lässt sich wie folgt darstellen: Der Mensch, inklusive aller seiner geistigen Fähigkeiten, ist durch Evolution entstanden und daher ist auch sein moralisches Verhalten einem evolutionären Selektionsprozess unterworfen. Folglich müssen alle moralischen Vorstellungen so gestaltet sein, dass sie einen (Überlebens-)Vorteil entweder dem einzelnen Organismus, dem Gen oder Mem, welches das Verhalten generiert, oder – nach anderer Sicht – einer Gruppe (Kin-Selektion) bringen.
Die Evolutionäre Ethik setzt eine naturalistische Metaethik voraus. Es gibt für sie weder übergeordnete moralische Werte, noch allgemein gültige moralische Normen. Auch gibt es keine natürlichen Rechte und Pflichten. Alle Normen sind von Menschen aufgestellt, zeitgebunden, manchmal sogar personengebunden.
Menschen können sich auf Grundnormen einigen, die allen oder jedenfalls vielen ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Normativ ist eine evolutionäre Ethik somit kontraktualistisch. Ein Beispiel für einen solchen Vertrag ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.[2]
Geschichte
Herbert Spencer wird als einer der wichtigsten Vorläufer – wenn nicht gar Begründer – der evolutionären Ethik betrachtet. Der Begriff wurde erstmals 1893 von Thomas Henry Huxley mit seinem Buch Evolution und Ethik (engl. Evolution and Ethics) geprägt. Weitere Vertreter sind der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert J. Richards, Edward O. Wilson mit seinem Hauptwerk Sociobiology: The New Synthesis (1975) und Richard Dawkins mit The Selfish Gene (1976). Bekannteste deutschsprachige Vertreter einer evolutionären Ethik sind Gerhard Vollmer und Franz M. Wuketits.
Philosophische Kritiken
Manche Strömungen der evolutionären Ethik übertragen biologische Maßstäbe unmittelbar auf die Ethik. Sie gelten daher als biologistisch und sind heftigem Widerspruch ausgesetzt. Durch die Missachtung des Humeschen Gesetzes begehen sie einen naturalistischen Fehlschlusses (letzteres nur bei Zugrundelegung eines ethischen Realismus).[3]
Dann wird eingewandt, dass die Gleichsetzung „evolutionär erfolgreich“ mit „ethisch gut“ kontraintuitiv sei.[4] Anschaulicher: Eine solche Ethik dürfte kaum ihren sozialdarwinistischen Implikationen entgehen können: in ihrer Logik ist ein militärisch erfolgreicher Genozid, weil evolutionär erfolgreich, ein ethisch guter Genozid und ist der Mörder, weil evolutionär erfolgreicher, ethisch besser als der Ermordete.[5]
Eine grundsätzliche philosophische Kritik an der Evolutionären Ethik will diese auf eine spezielle Form des Relativismus zurückführen.
Siehe auch
Literatur
- Eve-Marie Engels: Evolutionäre Ethik, in: Handbuch Ethik. Hg. v. Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Verlag J. B. Metzler: Stuttgart, Weimar 2002, 341–346
- Bernd Gräfrath: Evolutionäre Ethik? Philosophische Programme, Probleme und Perspektiven der Soziobiologie. Walter de Gruyter: Berlin 1997. Buchanzeige
- Gerhard Vollmer: Im Lichte der Evolution. S. Hirzel, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-7776-2636-9, S. 367 ff.
- Thomas Henry Huxley: Collected essays. 9 vols. Vol 1: Methods and results; vol 2: Darwiniana; vol 3: Science and education; vol 4: Science and Hebrew tradition; vol 5: Science and Christian tradition; vol 6: Hume, with helps to the study of Berkeley; vol 7: Man's place in nature; vol 8: Discourses biological and geological; vol 9: Evolution and ethics, and other essays, London: Macmillan 1893–94
- Volker Sommer: Die Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung. Hirzel, Stuttgart 1999. Buchanzeige
- Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 114–124.
- Wilhelm Vossenkuhl: Evolutionistische Ethik, in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik. 7. Auflage. München, Beck 2008, ISBN 978-3-406-56810-7
Weblinks
- Doris Schroeder: Eintrag in James Fieser, Bradley Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Das wollte ich nicht. Das waren meine Gene! Vom Darwinismus zur evolutionären Ethik, Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 25. bis 27. März 2009
- Robin F. A. Moritz, Universität Halle
- Hans Werner Ingensiep, Universität Duisburg-Essen
- http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/thomas.bonhoeffer/evolutio.htm
Einzelnachweise
- ↑ Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 114
- ↑ Gerhard Vollmer: Im Lichte der Evolution. Darwin in Wissenschaft und Philosophie. S. Hirzel, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-7776-2636-9, S. 367 ff.
- ↑ Ausführlich Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 121–123.
- ↑ Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. 4. Auflage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, ISBN 978-3-534-24595-6, S. 124
- ↑ Vgl. auch Wilhelm Vossenkuhl: Evolutionistische Ethik, in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik. 7. Auflage. München, Beck 2008, ISBN 978-3-406-56810-7: Das Überleben ist weder Grund für die Annahme, dass "das sittlich beste Lebewesen überlebt, noch umgekehrt dafür, daß sittliche Kriterien überhaupt Bedingungen des Überlebens sind."