Europäische Raketenkrise

Die europäische Raketenkrise war eine Phase der europäischen Raumfahrt in den Jahren 2022 bis 2024, während derer die europäische Raumfahrtindustrie nur wenige – zeitweise gar keine – Trägerraketen für den Start von Satelliten und Raumsonden bereitstellen konnte. Ursache waren die vorzeitige Außerbetriebnahme der russisch-europäischen Rakete Sojus-ST und Verzögerungen bei der Entwicklung und Inbetriebnahme der neuen Raketenmodelle Ariane 6 und Vega-C. Die ESA war in dieser Zeit gezwungen, Startaufträge für den Raketenbetreiber Arianespace zu streichen und an den Dienstleister SpaceX in den USA zu vergeben.[1][2]

Verlauf

Zu Beginn der 2020er Jahre betrieb Arianespace am französischen Weltraumbahnhof in Guayana die Raketen Ariane 5, Vega und Sojus-ST, letztere in Zusammenarbeit mit Russland. Die Vega sollte ab 2020 schrittweise durch das Nachfolgemodell Vega-C ersetzt werden,[3] die Ariane 5 und die Sojus-ST ab 2021 bzw. 2025 durch die Ariane 6.[4][5] Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Jahr 2022 führten die Sanktionen gegen Russland jedoch zu einem vorzeitigen Aus für die Sojus-ST, während sich die Inbetriebnahme der Ariane 6 verzögerte. Die in Produktion befindlichen Restexemplare der Ariane 5 und der Vega waren bereits für andere Nutzlasten vorgesehen.[6][7]

Der Raketenmangel vergrößerte sich, als beim zweiten Start der Vega-C im Dezember 2022 ein Defekt an deren zweiter Stufe auftrat, weshalb die Nutzlast – zwei französische Pléiades-Neo-Erdbeobachtungssatelliten – verloren ging. Der Betrieb der Rakete wurde unterbrochen.[8] Die ESA teilte daraufhin mit, der „europäische Trägerraketen-Sektor“ sei „in einer ernsthaften Krise“.[9] Der ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher begründete die Verspätung der Ariane 6 mit „hoch beunruhigenden“ technischen Problemen, die nach seiner Amtsübernahme 2021 zu Tage getreten seien.[10] Kurz darauf wurde bekannt, dass beim Vega-Hersteller Avio vier Treibstofftanks für das letzte Vega-Exemplar versehentlich verschrottet worden waren,[11] weshalb auch dieser Start aufgeschoben werden musste.

Die ESA trat nach dem Ausfall der Sojus-ST in Verhandlung mit außereuropäischen Raketenbetreibern. Der Start des Weltraumteleskops Euclid und der Asteroidensonde Hera wurde von Sojus-ST bzw. Ariane 6 auf Falcon-9-Raketen von SpaceX umgebucht.[12] Nach einem längeren Klärungsprozess wegen sicherheitstechnischer Bedenken wechselten auch zwei Starts von Galileo-Navigationssatelliten zur Falcon 9.[13][14] Für den europäisch-japanischen Erdbeobachtungssatelliten EarthCARE wurde zunächst der Start mit einer Vega-C statt einer Sojus-ST in Betracht gezogen, nach dem vorläufigen Ausfall der Vega-C aber ebenfalls eine Falcon 9 gewählt.[15][16] Für den Erdbeobachtungssatelliten Sentinel-1C erwog die ESA einen Start mit einer Falcon 9 statt einer Vega-C, entschied sich dann aber für einen verspäteten Vega-C-Start. Der Betrieb des Copernicus-Erdbeobachtungsprogramm blieb dadurch – infolge des Ausfall von Sentinel-1B im Jahr 2022 – vorübergehend eingeschränkt.[17][18]

Vom Ende der Zusammenarbeit mit Russland war auch der britische Satellitenbetreiber OneWeb betroffen. Fünf geplante Starts von OneWeb-Satelliten – vermittelt durch Arianespace – wurden von Sojus auf Falcon 9 umgebucht, zwei auf indische LVM3.[19]

Im Juni 2024 gab Eumetsat bekannt, den Wettersatelliten MTG-S1 wegen „außergewöhnlicher Umstände“ mit einer Falcon 9 statt einer Ariane 6 starten zu lassen. Diese Entscheidung wurde von europäischen Raumfahrtfunktionären und Politikern kritisiert. Eumetsat äußerte sich nicht zu den genauen Gründen für den Raketenwechsel,[20][21] aber der Leiter der ESA-Denkfabrik ESPI wies darauf hin, dass bei solchen Missionen Zeitpläne einzuhalten seien.[22]

Der überwiegend erfolgreiche Erstflug der Ariane 6 im Juli 2024 – zwei von fünfzehn Nutzlasten gingen infolge einer fehlgeschlagenen Triebwerkswiederzündung verloren[23] – wird als entscheidender Schritt zur Überwindung der europäischen Raketenkrise angesehen.[1][24] Im Dezember desselben Jahres ging auch die Vega-C wieder in Betrieb,[25] und im März 2025 absolvierte die Ariane 6 ihren ersten vollständig erfolgreichen Start.

Neu vergebene Startaufträge

Die folgenden Nutzlasten wurden während der Raketenkrise von Sojus und Ariane 6 auf andere Trägerraketen umgebucht. Es ist nicht bekannt, mit welchem Sojus-Modell die OneWeb-Starts Nr. 14 bis 20 ursprünglich erfolgen sollten. Vorherige OneWeb-Satelliten starteten sowohl mit Sojus-ST von Französisch-Guayana als auch mit Sojus-2.1b in Russland.

Nutzlast Startplanung
(Februar 2022)
neue
Trägerrakete
Startdatum (UTC) Startplatz Anzahl
Satelliten
EarthCARE 2023 Sojus-ST Vega-C
Falcon 9
28. Mai 2024 VSFB 01
Euclid 2023 Sojus-ST Falcon 9 1. Juli 2023 CCSFS 01
Galileo 29 & 30 2022 Sojus-ST Falcon 9 28. Apr. 2024 KSC 02
Galileo 31 & 32 2022 Sojus-ST Falcon 9 17. Sep. 2024 CCSFS 02
Hera 2024 Ariane 62 Falcon 9 7. Okt. 2024 CCSFS 01
MTG-S1 2024 Ariane 64 Falcon 9 1. Juli 2025 KSC 01
OneWeb 14 2022 Sojus LVM3 22. Okt. 2022 SHAR 36
OneWeb 15 2022 Sojus Falcon 9 8. Dez. 2022 KSC 40
OneWeb 16 2022 Sojus Falcon 9 10. Jan. 2023 CCSFS 40
OneWeb 17 2022 Sojus Falcon 9 9. März 2023 CCSFS 40
OneWeb 18 2022 Sojus LVM3 26. März 2023 SHAR 36
OneWeb 19 2022 Sojus Falcon 9 20. Mai 2023 VSFB 15
OneWeb 20 2022 Sojus Falcon 9 20. Okt. 2023 VSFB 20

Einzelnachweise

  1. a b Der Erstflug der Ariane 6 beendet die europäische Raketenkrise. Ende gut, alles gut? Wenn es nur so einfach wäre. Neue Zürcher Zeitung, 17. Juli 2024.
  2. Das Ende von Europas Raketenkrise naht. Welt, 4. Dezember 2023.
  3. Vega-C (Memento vom 2. Juli 2019 im Internet Archive). ESA, archiviert am 2. Juli 2019.
  4. Mihir Neal: ESA delays Ariane 6 launch to the second half of 2021. nasaspaceflight.com, 10. Juli 2020, abgerufen am 16. Juli 2020 (englisch).
  5. Earth Explorer 9 Candidate Mission FORUM – Report for Mission Selection. (PDF; 17 MB) ESA, 21. Juni 2019, S. 121, abgerufen am 25. September 2019: „… Ariane 6.2, which will replace Arianespace Soyuz in the 2025 timeframe.“
  6. Ukraine Crisis Brings an End to Soyuz Launches from French Guiana. Flight Plan, 1, März 2022.
  7. Dieter Sürig: Raumfahrt: Der Sojus-Ausfall ist eine Chance für die neue Ariane 6. In: Süddeutsche Zeitung. 18. März 2022, abgerufen am 19. Januar 2025.
  8. N° 7–2023: Loss of flight VV22: Independent Enquiry Commission announces conclusions. ESA, 3. März 2023.
  9. Esa sieht Trägerraketen-Sektor in schwerer Krise. Swissinfo, 23. Januar 2023.
  10. ESA Director General: Ariane 6 aiming for summer 2024 debut. Spaceflight Now, 30. November 2023.
  11. Andrew Parsonson: The Case of the Missing Vega AVUM Propellant Tanks. In: European Spaceflight. 4. Dezember 2023, abgerufen am 9. Dezember 2023 (amerikanisches Englisch).
  12. ESA moves two missions to Falcon 9. Spacenews, 20. Oktober 2022.
  13. SpaceX Concludes ESA Contract With Second Galileo Mission. European Spaceflight, 18. September 2024.
  14. EU agrees US deal to launch satellites with Elon Musk’s SpaceX. Politico, 19. März 2024.
  15. Change of Launcher Confirmed for Several ESA Missions with Important SPACEBEL Participation. Spacebel, 24. Oktober 2022.
  16. Falcon 9 bringt EarthCARE in den Orbit. Flug Revue, 29. Mai 2024.
  17. Europe considers launching Copernicus satellite on Falcon 9. Spacenews, 12. Januar 2024.
  18. Europe’s Vega-C returns to flight with Sentinel-1C mission. Nasaspaceflight, 4. Dezember 2024.
  19. OneWeb launch sign of greater role for India in commercial launch market. Spacenews, 21. Oktober 2022.
  20. Eumetsat moves weather satellite from Ariane 6 to Falcon 9. Spacenews, 29. Juni 2024.
  21. European satellite agency criticised over SpaceX deal. Science Business, 8. Juli 2024.
  22. Eumetsat explains Ariane 6 cancellation. Advanced Television, 11. Juni 2024.
  23. Ariane 6 maiden launch: a good but not flawless flight as two payloads are misplaced. Seradata, 10. Juli 2024.
  24. European Space Agency launches inaugural Ariane 6 rocket, encounters upper stage issue. Spaceflight Now, 7. Juli 2024.
  25. Vega C Returns to Flight Deploying Sentinel-1C. European Spaceflight, 6. Dezember 2024.