Erich S. Gruen

Erich S. Gruen, auch Erich Stephen Gruen[1] (geboren am 7. Mai 1935 in Wien als Erich Grünberg) ist ein amerikanischer[1] Althistoriker österreichischer Herkunft. Er ist emeritierter Gladys Rehard Wood Professor für Geschichte und Klassische Altertumswissenschaft[2] an der University of California, Berkeley, wo er von 1966 bis 2008 lehrte.[1]

Leben

Herkunft und Familie

Erich Stephen Gruen, 1935 als Grünberg geboren, stammt aus einer Wiener jüdischen Familie. Sein Vater war der Holocaustüberlebende Siegfried Grünberg (geb. 14. August 1899 in Wien; gest. 24. Dezember 1987 als Siegfried Grün in den USA), seine war Mutter Irma Grünberg (geb. 8. Juli 1906 als Irma Katz in Wien; gest. Dezember 1993 als Irma Grün in den USA). Die österreichischen Staatsbürger, im 20. Wiener Bezirk Brigittenau ansässig, heirateten am 5. Juni 1932 im Tempel II, Pazmanitengasse. Nach der Geburt von Erich am 7. Mai 1935 wurde am 5. März 1938 seine Schwester Kitty Grünberg in die Familie hineingeboren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde der Vater Siegfried Grünberg im KZ Dachau inhaftiert, von dort ist ein Brief von ihm an seine Frau Irma erhalten, datiert mit 26. Februar 1939, abgestempelt mit 2. April 1939. Wenige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kam er aus unbekannten Gründen aus dem Konzentrationslager frei: „Was jedenfalls half, war der Nachweis entfernter Verwandter in den Vereinigten Staaten, vielleicht half auch eine großzügige ‚freiwillige Spende‘, dafür hat Aaron [der Urenkel; Anm.; siehe unten im Abschnitt Staatsbürgerschaft] aber keine Belege. Was er hat, sind Briefe, die Siegfried aus Dachau seiner Frau Irma schrieb.“[3][4]

Emigration in die USA und Einbürgerung

Am 16. März 1939 wurden der Mutter Irma Grün mit den bei ihr eingetragenen Kindern Erich (4 Jahre) und Kitty (1,5 Jahre) und am 31. März 1939 dem Vater Siegfried Grün mit Staatsangehörigkeit Deutsches Reich vom Polizeipräsidenten von Wien als zuständige Behörde Reisepässe mit dem obligatorischen J zur Ausreise, gültig bis 16. bzw. 31. März 1940, ausgestellt. Am 11. Juli 1939 wurde ihnen vom US-Konsulat in Wien in den Pässen ihre Immigration Visa eingetragen. Am 3. August 1939 reiste die Familie laut Ausreisestempel in ihren Pässen über die Grenzübergangsstelle Cuxhaven aus, auf dem Schiff wurden ihnen am 9. August vom Zahlmeister je Person 10 RM der sogenannten Reisefreigrenze in Devisen ausgehändigt.[4]

Mit seiner Immigrationsurkunde der Vereinigten Staaten vom 5. Dezember 1944 wurde Siegfried Gruen US-Staatsbürger, als Bestandteil der Einbürgerung wurde gleichzeitig sein Familienname von Grünberg auf Gruen abgeändert. Wiewohl nicht in der USHMM-Sammlung enthalten, wurden wohl in gleicher Weise auch die Mutter Irma mit den beiden Kindern Erich und Kitty Gruen zu US-Staatsbürgern.[4]

Ausbildung, Forschung und Lehre

Erich Gruen studierte von 1953 bis 1957 Geschichte, Griechisch und Latein an der Columbia University (Abschluss B.A. mit Auszeichnung) und bis 1960 Literae Humaniores – Alte Geschichte und Philosophie an der Oxford University (Abschluss B.A. mit Auszeichnung; M.A.). Anschließend studierte er Geschichte mit Schwerpunkten in Griechischer Geschichte, Römischer Geschichte und Neuerer Europäischer Geistesgeschichte an der Harvard University und promovierte 1964 zum Ph.D.[2]

Gruen hatte Lehraufträge an der Harvard University (1962–1966) und an der University of California, Berkeley (1966 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008:[1] griechische und römische Geschichte sowie Geschichte der Juden in der Griechisch-Romanischen Welt), sowie Gastprofessuren an den folgenden Universitäten: University of Colorado (1981), Hebräische Universität Jerusalem (1984), Princeton University (1987–1988), Cornell University (1991) und University of Minnesota (1994). 1986 wurde er zum Gladys Rehard Wood Professor für Geschichte und Klassische Altertumswissenschaft ausgezeichnet.[2]

Sein anfänglicher Forschungsschwerpunkt lag auf der Geschichte der Römischen Republik. Sein vielleicht bekanntestes Werk, The Last Generation of the Roman Republic (Berkeley 1974), wird allgemein als Gegenentwurf zu Ronald Symes The Roman Revolution (Oxford 1939) und zu Christian Meiers Res publica amissa (1966) angesehen: Gruen argumentierte, der Untergang der Republik sei zumindest bis 50 v. Chr. keineswegs unausweichlich gewesen, und die damaligen Politiker hätten auch nicht damit gerechnet. Überaus einflussreich war daneben auch die Studie The Hellenistic World and the Coming of Rome von 1984, in der Gruen die These vertritt, die römische Politik gegenüber der griechischen Welt im Hellenismus sei vor allem von Missverständnissen geprägt gewesen, die letztlich zur Annexion Griechenlands durch Rom geführt hätten – etwas, das die Römer zumindest anfangs überhaupt nicht gewollt hätten, wozu sie sich aber aufgrund der Unfähigkeit der Griechen, inneren Frieden zu wahren, gezwungen gesehen hätten. Weitere Forschungsschwerpunkte Gruens sind Ethnizität und das Judentum in der antiken Welt.

Erich Gruen lebt (Anfang 2025) immer noch in Berkeley.[3]

Staatsbürgerschaft

Nach der Emigration in die Vereinigten Staaten und der nachfolgenden Einbürgerung als US-Staatsbürger erlangte Erich Gruen seine ursprüngliche, ihm von den Nazis genommene österreichische Staatsbürgerschaft nicht mehr zurück, weil er sich dagegen entschieden hat:

Erichs in München lebender Sohn Keith Gruen, der mit der deutschen Staatsbürgerin Regine Gruen verheiratet ist und der die notwendigen Dokumente und Nachweise zusammengetragen hatte, sowie sein Sohn Aaron Gruen (Erich Gruens Enkel), bemühten sich, nachdem sie von der im September 2020 geschaffenen Möglichkeit zum Erhalt der Staatsbürgerschaft für Verfolgte des Nationalsozialismus und ihre direkten Nachkommen[5] erfahren hatten, um diese. Seit Mai 2022 sind beide, Keith und Aaron Gruen, österreichische Staatsbürger. Der Vater bzw. Großvater Erich Gruen lehnte hingegen den Zurückerhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft ebenso ab, wie er auf die Annahme der ihm gesetzlich zustehenden Entschädigung in sechsstelliger Höhe verzichtet hatte, trotzdem ihm dieses seine beiden Nachfahren die Annahme nahegelegt hatten.[3][6]

Auszeichnungen, Ehrungen, Mitgliedschaften

In Ehrung der Leistungen von Erich Gruen ist nach ihm der Erich S. Gruen Prize benannt, den die Society for Classical Studies (SCS) beginnend im Jahr 2020 jährlich verleiht.[9]

Österreich:

Publikationen

  • Roman Politics and the Criminal Courts. 149-78 BC, Cambridge (MA) 1968.
  • ed: The Image of Rome. Englewood Cliffs, New York 1969.
  • ed: Imperialism in the Roman Republic. New York 1970.
  • The Roman Republic. Washington D.C. 1972.
  • The Last Generation of the Roman Republic. Berkeley 1974 (pb., mit neuer Einleitung, 1995).
  • The Hellenistic World and the Coming of Rome 2 Bände. Berkeley 1984 (pb, 1986).
  • Studies in Greek Culture and Roman Policy. Leiden 1990 (pb, 1996).
  • Culture and National Identity in Republican Rome. Ithaca 1992 (pb., 1994).
  • co-ed: Images and Ideologies: Self-Definition in the Hellenistic World. Berkeley 1993.
  • co-ed: Hellenistic Constructs: Essays in Culture, History, and Historiography. Berkeley 1997.
  • Heritage and Hellenism: The Reinvention of Jewish Tradition. Berkeley 1998.
  • Diaspora: Jews amidst Greeks and Romans. Cambridge (MA) 2002.
  • als Hrsg.: Cultural Borrowings and Ethnic Appropriations in Antiquity. Oriens et Occidens 9, Stuttgart 2005.
  • Rethinking the Other in Antiquity. Princeton 2011.
  • The Construct of Identity in Hellenistic Judaism. Essays on Early Jewish Literature and History. Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 29, Berlin/Boston 2016.

In seinem CV führt Gruen an die 70 Artikel sowie ca. 60 Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammlungen an.[2]

Literatur

  • Werner Röder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Band II, 1, München/Saur 1983, ISBN 3-598-10089-2, S. 425.
  • Andreas W. Daum, Hartmut Lehmann, James J. Sheehan (Hrsg.): The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians. With a Biobibliographic Guide. Berghahn Books, New York 2016, ISBN 978-1-78238-985-9, S. 375f.

Einzelnachweise

  1. a b c d Erich Gruen: A Wandering Jew: Some Reflections. In: Ancient Jew Review. 12. September 2018, abgerufen am 16. Mai 2025 (englisch): „Erich Stephen Gruen is an American classicist and ancient historian. He was the Gladys Rehard Wood Professor of History and Classics at the University of California, Berkeley, where he taught full-time from 1966 until 2008.“
  2. a b c d Erich Gruen: Gladys Rehard Wood Professor of History and Classics Emeritus. Personenseite am Classics Department der University of California, Berkeley, ohne Datum, abgerufen am 16. Mai 2025 (englisch); sowie:
    Full CV (englisch): Erich S. Gruen, Curriculum Vitae (Memento vom 1. September 2006 im Internet Archive).
  3. a b c Fritz Neumann: Aaron Gruen und sein Urgroßvater Siegfried, der dem KZ entkam. In: Der Standard. 2. Januar 2025, abgerufen am 16. Mai 2025.
  4. a b c Alle Daten und Angaben beruhen auf der Sammlung Grünberg family papers mit den als Digitalisate eingebundenen Dokumenten. In: United States Holocaust Memorial Museum Collection (USHMM), eingebracht als Schenkung von Irma Gruen im Jahr 1993 (“Irma Gruen donated the Grünberg family papers to the United State Holocaust Memorial Museum in 1993”). Records zuletzt geändert am 24. Februar 2023, abgerufen am 16. Mai 2025.
  5. Siehe § 58c Staatsbürgerschaftsgesetz in der Fassung 1. Mai 2022 mit Bundesgesetz mit dem das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 geändert wird (Staatsbürgerschaftsrechtsänderungsgesetz 2018), BGBl. I Nr. 96/2019 vom 22. Oktober 2019, in Kraft getreten 1. September 2020;
    Staatsbürgerschaft für Verfolgte des Nationalsozialismus und ihre direkten Nachkommen. In: oesterreich.gv.at, abgerufen am 16. Mai 2025.
  6. Fritz Neumann: Aaron Gruen im Marathon als erster Österreicher unter 2:10 Stunden: „Dabei bleibt es nicht“. Porträt. In: Der Standard. 31. März 2025, abgerufen am 16. Mai 2025.
  7. Professor Erich S. Gruen. Personenseite auf der Website der American Academy of Arts and Sciences in der Fassung Mai 2025. Abgerufen am 16. Mai 2025.
  8. Andreas W. Daum: Refugees from Nazi Germany as Historians. Origins and Migrations, Interests and Identities. In: Andreas W. Daum, Hartmut Lehmann, James J. Sheehan (Hrsg.): The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians. Berghahn Books, New York 2016, ISBN 978-1-78238-985-9, S. 1–52, 375–376.
  9. The Erich S. Gruen Prize. In: Website der Society for Classical Studies (SCS), abgerufen am 16. Mai 2025.
  10. Aufstellung der durch den Bundespräsidenten verliehenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich von 1952 bis April 2012 (unvollständig). (PDF; 6,9 MB) Anfragebeantwortung des Bundeskanzlers auf der Website des Österreichischen Parlaments, S. 1219.