Eduard Sievers

Eduard Sievers um 1900

Eduard Georg Sievers (* 25. November 1850 in Lippoldsberg, Landkreis Hofgeismar; † 30. März 1932 in Leipzig) war ein deutscher germanistischer Mediävist und Linguist. Er wirkte als Professor an den Universitäten in Jena, Tübingen, Halle und Leipzig.

Leben

Nach dem Abitur am Lyceum Fridericianum in Kassel studierte Sievers 1867–1870 an den Universitäten Leipzig und Berlin Klassische Philologie, Germanistik und Anglistik. Er wurde Mitglied und später Alter Herr des Klassisch-Philologischen Vereins Leipzig.[1] 1870 promovierte er an der Universität Leipzig mit der Dissertation Untersuchungen über Tatian zum Dr. phil. Nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford und London, wo er altenglische Handschriften studierte und auch seine spätere Frau Alice Towell kennenlernte, wurde er 1871 zum außerordentlichen Professor für Germanische Philologie an der Universität Jena ernannt. 1876 erfolgte seine Ernennung zum Ordinarius. 1881 lehnte er schweren Herzens eine Berufung an die Universität Harvard ab. 1883 folgte er einem Ruf an die Universität Tübingen, und 1887 wechselte er an die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. Von 1892 bis zu seiner Emeritierung 1922 hatte er einen Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig inne. Im akademischen Jahr 1899/1900 war Sievers Dekan der Philosophischen Fakultät, im akademischen Jahr 1901/1902 Rektor der Universität Leipzig.[2] 1922 wurde er emeritiert.

Er war seit dem Sommersemester 1895 Mitglied des Akademisch-Neuphilologischen Vereins Leipzig (seit 1924 Leipziger Burschenschaft Plessavia). Seit 1889 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen, seit 1892 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und seit 1893 auswärtiges Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften. 1900 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. 1920 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt.[3] Über die Emeritierung hinaus wirkte er ab 1920 als Mitglied im Hauptausschuss der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft.

Werk

Grabstätte Eduard Sievers auf dem Südfriedhof in Leipzig

Sievers galt als „überaus begabt und ungewöhnlich talentiert“,[4] was sich schon in seiner außerordentlich frühen Promotion (mit 19 Jahren) und Berufung an eine Universität (mit 20 Jahren) zeigte.

In der erste Periode seines Schaffens gehörte der Forschungsrichtung der Junggrammatiker an. Wegen seines Werks Grundzüge der Lautphysiologie von 1876 galt er als einer der bedeutendsten Phonetiker seiner Zeit. Nach ihm benannt ist das Sieversche Gesetz, ein germanisches bzw. indogermanisches Lautgesetz. Zentrale altgermanische Texte erfuhren durch ihn ihre zum Teil erste und lange Zeit gültige Edition, so 1874 die lateinisch-althochdeutschen Murbacher Hymnen, und ab 1879 gab er gemeinsam mit Elias Steinmeyer in fünf Bänden die Althochdeutschen Glossen heraus. 1875 veröffentlichte er die maßgeblichen philologischen Untersuchungen zum altniederdeutschen Heliand und zur altenglischen Genesis. Ein bedeutender Fortschritt in der sprachgeschichtlichen Forschung war seine Angelsächsische Grammatik von 1882, da ihre Materialbasis im Gegensatz zu älteren Darstellungen auch aus Prosatexten bestand; 1895 gab er deren Abriß heraus. Überdies verfasste er unter dem Gesamttitel Kleine Beiträge zur deutschen Grammatik mehrere grundlegende Aufsätze in den ersten elf Bänden von Pauls und Braunes Beiträgen. Seine Altgermanische Metrik von 1893 erntete zwar hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von natürlichem Wortakzent und künstlicher Verbbetonung Kritik, hingegen großes Lob für die erstmalige Verwendung der streng indikativen Methode im Bereich der Metrik und für die Statistik der Silbengruppen, wie sie im altgermanischen Vers vorkommen.[5] Die Arbeit ist damit für die spätere quantitative Linguistik von Bedeutung, weil sie dem Menzerath-Altmann-Gesetz den Weg bereitete und als erste statistische Erhebungen zu literarischen Werken enthielt. An der Syntax war Sievers grundsätzlich interessiert, doch hielten ihn die Schwächen der damaligen Grammatiken im Bereich der Satzlehre davon ab.[6]

In seiner zweiten Schaffensperiode wandte sich Sievers von der junggrammatischen Forschung ab und stattdessen der Sprachmelodie zu. In seiner Aufsatzsammlung Rhythmisch-melodische Studien von 1912, in der er die Melodie in gesprochener Sprache erforscht, stellte er gestützt auf Experimente mit Versuchspersonen die These auf, dass literarischen Texten eine vom Autor bewusst oder unbewusst eingelegte Melodie vorgegeben ist, die bei den meisten Lesern ähnlich wiedergegeben wird.[7] Sievers entwickelte in den Folgejahren die sogenannte „Schallanalyse“, mit welcher er sich erhoffte, die Schall- und Lautform überlieferter Texte rekonstruieren, um damit u. a. Verfasserhomogenität beziehungsweise verfasserfremde Einschübe in Texten erkennen zu können. Sie war jedoch ausgesprochen umstritten und wurde von vielen als unwissenschaftlich abgelehnt. Zu einer Theorie ausformulieren konnte er sie nicht mehr, und in der Folge hat sie auch nie eine ernsthafte Fortführung erfahren. „Ob Sievers sich in eine Idee verrannt hat, die jeglicher Grundlage entbehrt, oder aber ob die Schallanalyse vielmehr Zeugnis ablegt für seine Genialität, wird also letztlich nicht zu entscheiden sein.“[8]

Sievers erhielt zweimal eine Festschrift zugeeignet, 1896 (Philologische Studien) und 1925 (Germanica).[9]

Schriften

  • Untersuchungen über Tatian. Buchdruckerei des Waisenhauses, Halle 1870 (Dissertation).
  • Die Murbacher Hymnen. Nach der Handschrift herausgegeben. Halle/S. 1874 (Digitalisat).
  • Der Heliand und die angelsächsische Genesis. Lippert (Niemeyer), Halle/S. 1875.
  • Angelsächsische Grammatik. Niemeyer, Halle/S. 1882 (englisch 1903, Nachdruck 1968).
  • Proben einer metrischen Herstellung der Eddalieder. Fues, Tübingen 1885.
  • Tübinger Bruchstücke der älteren Frostuthingslög. Tübingen 1886.
  • Altgermanische Metrik. Niemeyer, Halle 1893.
  • Abriß der angelsächsischen Grammatik. Niemeyer, Halle/S. 1895 (16. Auflage 1963).
  • mit Elias Steinmeyer (Hrsg.): Die althochdeutschen Glossen. I–V, Berlin 1879–1922; Neudruck Dublin/Zürich 1969.
  • Grundzüge der Lautphysiologie zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1876. (Weitere 4 Auflagen 1881, 1885, 1893 und 1901 unter dem Titel Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen beim gleichen Verlag).
  • Zum angelsächsischen Vocalismus. Edelmann, Leipzig 1900.
  • Runen und Runeninschriften und Phonetik. In: Hermann Paul (Hrsg.): Grundriss der germanischen Philologie. Erster Band. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Trübner, Strassburg 1901, S. 248–262 und 283–319.
  • Metrische Studien. Drei Teile. Teubner, Leipzig 1903–1919.
  • Alttestamentliche Miscellen. Zehn Teile. Leipzig 1904–1907.
  • Rhythmisch-melodische Studien. Vorträge und Aufsätze. Winter, Heidelberg 1912.
  • Die altschwedischen Upplandslagh nebst Proben formverwandter germanischer Sagdichtung. Zwei Teile. Teubner, Leipzig 1919.
  • H. Lietzmann und die Schallanalyse. Eine Kritik und eine Selbstkritik. Hinrichs, Leipzig 1921.
  • Der Nibelunge Nôt. Kûdrûn. Insel Verlag, Leipzig 1921.
  • Ziele und Wege der Schallanalyse. Zwei Vorträge. Winter, Heidelberg 1924.
  • Altslawisch ē und ja. Eine sprachgeschichtliche Untersuchung. Hirzel, Leipzig 1925.
  • Das Igorlied, metrisch und sprachlich bearbeitet. Leipzig 1926.
  • Neue Beiträge zur Lehre von der Kasusintonation. Hirzel, Leipzig 1930.
  • Zur englischen Lautgeschichte. Kritische Untersuchungen. Hirzel, Leipzig 1930.

Literatur

  • Karl-Heinz Best: Eduard Sievers (1850–1932). In: Glottometrics. 18, 2009, ISSN 1617-8351, S. 87–91 (PDF Volltext). (Wiederabdruck in: Karl-Heinz Best (Hrsg.): Studien zur Geschichte der Quantitativen Linguistik. Band 1. RAM-Verlag, Lüdenscheid 2015, S. 146–150. ISBN 978-3-942303-30-9.)
  • Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker: ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1989, zu Eduard Sievers Biographie: S. 21–26.
  • Eveline Einhauser: Sievers, Eduard (1850–1932). In: Keith Brown (Hrsg.): Encyclopedia of language and linguistics. 2. Auflage. Elsevier, Oxford 2006, ISBN 0-08-044299-4, S. 288–290.
  • Eckhard Meineke: Der Sprachwissenschaftler Eduard Sievers und die Gründung des Deutschen Seminars in Jena. In: Reinhard Hahn, Angelika Pöthe (Hrsg.): „… und was hat es für Kämpfe gegeben.“ Studien zur Geschichte der Germanistik an der Universität Jena. Winter, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8253-5648-4, S. 99–118.
  • Hans-Joachim SolmsSievers, Georg Eduard. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 390 f. (Digitalisat).
Commons: Eduard Sievers – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Eduard Sievers – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. M. Göbel, A. Kiock, Richard Eckert (Hrsg.): Verzeichnis der Alten Herren und Ehrenmitglieder des Naumburger Kartell-Verbandes Klassisch-Philologischer Vereine an deutschen Hochschulen. A. Favorke, Breslau 1913, S. 50.
  2. Eduard Sievers im Professorenkatalog der Universität Leipzig
  3. Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Bd. 246 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Folge 3, Bd. 50). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-82516-1, S. 226.
  4. Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker: ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1989, S. 23.
  5. Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker: ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1989, S. 25.
  6. Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker: ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1989, S. 24.
  7. Vergleiche Rezension: Sachbuch: Wie die Stimme, so der Mensch. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 9. Januar 2021]).
  8. Eveline Einhauser: Die Junggrammatiker: ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 1989, S. 26.
  9. Philologische Studien. Festgabe für Eduard Sievers zum 1. Oktober 1896. Niemeyer, Halle (Saale) 1896; Germanica. Eduard Sievers zum 75. Geburtstage, 25. November 1925. Niemeyer, Halle (Saale) 1925.