Drei Grazien (Kern)

Die drei Grazien ist eine aus Elfenbein gefertigte Kleinplastik von Leonhard Kern, die um das Jahr 1640 entstand. Die drei Grazien werden als Allegorie der Wohltat interpretiert, weil „die Wohltat, von Hand zu Hand gehend, dennoch immer wieder den Kreislauf zum Geber zurück macht“. Die Plastik steht im Landesmuseum Württemberg und wird im Rahmen der Dauerausstellung „LegendäreMeisterWerke“ gezeigt.
Thema
Die Darstellung der drei Grazien ist in der bildenden Kunst sehr weit verbreitet. Die drei Frauengestalten personifizieren das Geben und Nehmen und verkörpern die Funktion des Austauschens bzw. des Tauschhandels.[1] Sie wurden in der Antike meist bekleidet dargestellt, wie etwa in einem Marmorrelief am Eingang der Akropolis in Athen. Später erscheinen sie eher unbekleidet, wie zum Beispiel in einem in Pompeji gefundenen Fresko. Für Seneca stehen die drei Grazien für den Dreischritt aus Geben, Empfangen und Erwidern.[1] Er sieht sie als Allegorie der Wohltat, weil „die Wohltat, von Hand zu Hand gehend, dennoch immer wieder den Kreislauf zum Geber zurück macht“.[2] Ist das Attribut eines Apfels in der Darstellung präsent, ist jedoch das Paris-Urteil angesprochen. Demgegenüber thematisiert der Apfel der Eris die Zwietracht, die Allianz von Schönheit und Neid.[1]
In der frühen Neuzeit diente für die bildende Kunst eine antike Marmorgruppe als prägendes Vorbild, welches in der Piccolomini-Bibliothek des Domes zu Siena steht. Es handelt sich hierbei um eine römische Kopie eines griechischen Originals, welches die rechte und linke Göttin von vorne und die mittlere von hinten zeigt (sog. Sieneser Typ der Grazien-Darstellung). Dieses Motiv übernahm auch Leonhard Kern und variierte es mehrfach.[1] In mehreren seiner Elfenbeinskulpturen sind die plastisch voll ausgearbeiteten Frauenfiguren kreisförmig angeordnet, wofür das Hekataion als antikes Vorbild anzusehen ist. Die griechische Göttin Hekate wurde häufig als dreiköpfig oder dreikörperig dargestellt, wobei die Frauengestalten um eine zentrale Säule angeordnet waren. Aus dem 16. Jahrhundert sind Abbildungen unbekleideter Grazien in einer kreisförmigen Anordnung bekannt.[3]
- Historische Darstellungen der drei Grazien
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Fresko in Pompeji -
Marmorgruppe in der Piccolomini-Bibliothek zu Siena
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Hekateion: Die Göttin Hekate in dreifacher Gestalt, von drei Chariten umtanzt. Attika, ca. 3. Jahrhundert v. Chr.
Beschreibung
Leonhard Kern fertigte mindestens drei Elfenbeingruppen mit dem Motiv der drei Grazien an.[4] Bei diesen Variationen desselben Themas waren die nackten Frauenfiguren jeweils kreisförmig angeordnet und vollplastisch aus dem soliden Teil eines Stoßzahns geschnitzt. In der ohne Sockel 31,6 cm hohen und damit relativ großen Ausgabe des Landesmuseums Württemberg stehen sich die drei schlanken Frauen gegenüber.[4] Die Frauenkörper wurden wahrscheinlich nach menschlichen Modellen gefertigt.[5] Die Grazien umarmen sich gegenseitig und reichen sich dabei die Hände. Jeweils ein Händepaar ist hüfthoch gehalten und eher versteckt. Das andere Händepaar greift entsprechend einem Geben und Nehmen in Brusthöhe ineinander und wird durch diese höhere Anordnung hervorgehoben.[4] Zwei Figuren blicken den Betrachter direkt an, während eine Figur auf ihr Gegenüber blickt. Die Frisuren der Grazien sind aufwendig und variantenreich gestaltet. Die Frauen stehen fest auf einer runden Sockel. Das solide wirkende, kantige Steinimitate hebt sich scharf von den glatten, gerundeten Körpern ab.[4]
Die ausgeprägten Schreger-Linien (Schreger-Linien sind visuelle Artefakte, die in den Querschnitten von Elfenbein zu erkennen sind[6]) betonen die Körperformen der drei Frauen. Ihre Nacktheit unterstreicht die nur abgeschwächt ausgeprägt erotische Andeutung in der Darstellung der Freigiebigkeit. Die natürlich wirkende Nacktheit und die würdevolle Haltung der Grazien, die Stilmerkmale antiker Kunst beinhaltet, veredeln den erotischen Beiklang. „Ihre Ausstrahlung beruht auf kompakter, ruhiger Körperlichkeit, ihren glatten, gespannten Oberflächen des polierten, von Lichtreflexen belebten Elfenbeins“.[5] Kerns Werk zeigt ein ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Gruppe ohne aktuelle Zeitbezüge oder Attribute. Der gemeinsame Auftrag der Gruppe ist durch die Handreichung und die Blicke der sich gegenüberstehenden Frauen verdeutlicht, ohne dabei auf die Individualität der einzelnen Figur zu verzichten.[5]
Datierung und Ausstellungsort
Die Skulptur entstand um das Jahr 1640, als Leonhard Kern in Schwäbisch Hall lebte. Sie wurde 1982 Kern zugeschrieben. Die Skulptur befindet sich im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und trägt die Inventarnummer „WLM Inv.-Nr. 1981–5“. Sie wird in der Dauerausstellung „LegendäreMeisterWerke“ gezeigt.[4][7]
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ a b c d Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 160–167 (uni-heidelberg.de [PDF]).
- ↑ Fritz Fischer: Grosse Kunst in kleinem Format. Kleinplastiken im Landesmuseum Württemberg. Hrsg.: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart. Süddeutsche Verlagsgesellschaft, Ulm 2004, ISBN 3-929055-61-9, S. 42.
- ↑ Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 166 (uni-heidelberg.de [PDF]).
- ↑ a b c d e Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 167 (uni-heidelberg.de [PDF]).
- ↑ a b c Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 165 (uni-heidelberg.de [PDF]).
- ↑ Identification of Ivory and Ivory Substitutes. In: U.S. Fish & Wildlife Services. National fish and wildlife, Forensics Laboratory, archiviert vom am 17. Februar 2008; abgerufen am 31. August 2025 (englisch).
- ↑ Die Drei Grazien. In: museum-digital.de. Landesmuseum Württemberg, abgerufen am 31. August 2025.
Koordinaten: 48° 46′ 37,3″ N, 9° 10′ 46,1″ O