Digitaler Humanismus
Digitaler Humanismus ist ein interdisziplinäres Konzept, das sich mit der Wechselwirkung zwischen technologischer Entwicklung, insbesondere der digitalen Transformation, und den Grundwerten des Humanismus befasst. Ziel ist es, den digitalen Wandel so zu gestalten, dass er dem Menschen dient, seine Würde wahrt und demokratische, ethische und soziale Prinzipien berücksichtigt. Der Digitale Humanismus versteht sich als Gegenentwurf zu technokratischen oder rein ökonomisch motivierten Digitalisierungsstrategien.
Begriff und Entstehung
Der Begriff „Digitaler Humanismus“ wurde ab den 2020er-Jahren verstärkt in wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Debatten verwendet. Besonders in Europa, und hier vor allem im deutschsprachigen Raum, hat er an Bedeutung gewonnen. Der erste publizierte Aufschlag erfolgte 2018 in Form des Buches "Digitaler Humanismus: Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz" von Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld. Das Buch gewann den Bruno-Kreisky Preis. Die Autoren argumentieren, dass Softwaresysteme zwar rechnen, aber nicht denken können, sie weder zu Gefühlen noch zu moralischen Entscheidungen fähig sind und menschliche Kommunikation nicht ersetzen können. Im Zentrum steht der humanistische Gedanke, dass eine Maschine nicht zu einer Person werden kann - auch wenn sie menschliches Verhalten perfekt simuliert, weil eine solche Vorstellung auf einem mechanistischen Menschenbild beruht. Das Buch wendet sich sowohl gegen den KI-Animismus, gemeint ist die Beseelung des Unbeseelten, hier digitaler Maschinen, als auch gegen den KI-Mechanismus, wonach das menschliche oder tierische Gehirn in Analogie zu Hard- und Software zu interpretieren sei.
Ein weiterer wichtiger Impuls kam daraufhin unter anderem von der TU Wien, die 2019 mit dem „Vienna Manifesto on Digital Humanism“ eine internationale Plattform zur Diskussion des Themas ins Leben rief. Dieses Manifest wurde von über 1000 führenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Industrie unterzeichnet und betont die Notwendigkeit, technologische Entwicklungen mit humanistischen Werten zu verbinden.
Der Digitale Humanismus steht in der Tradition des klassischen Humanismus, der den Menschen als Maß aller Dinge begreift, überträgt dieses Leitbild jedoch in das digitale Zeitalter. Dabei wird Technik nicht als autonomes System betrachtet, sondern als gesellschaftlich gestaltbar.
Zentrale Anliegen
Die zentralen Anliegen des Digitalen Humanismus sind:
- Angemessene Einschätzung von Künstlicher Intelligenz als Werkzeug, das für menschliche Zwecke verantwortlich eingesetzt werden sollte.
- Wahrung der Menschenwürde: Auch im digitalen Raum soll die Unantastbarkeit der menschlichen Würde oberstes Prinzip sein.
- Transparenz und Kontrolle von Algorithmen: Künstliche Intelligenz und automatisierte Systeme sollen nachvollziehbar, fair und überprüfbar gestaltet werden.
- Demokratie und Teilhabe: Die digitale Transformation darf nicht zur Entmachtung von Individuen führen, sondern soll demokratische Strukturen stärken.
- Bildung und Mündigkeit: Menschen sollen befähigt werden, digitale Technologien kompetent und kritisch zu nutzen.
- Verantwortung der Entwickler und Entwicklerinnen, Informatiker und Informatikerinnen, Ingenieure und Ingenieurinnen, Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen sollen sich der gesellschaftlichen Wirkung ihrer Arbeit bewusst sein und Verantwortung übernehmen.
Anwendung und Kritik
Der Digitale Humanismus findet Anwendung in Bereichen wie Ethik der künstlichen Intelligenz, Datenschutz, Plattformregulierung, digitale Bildung und der Entwicklung von menschenzentrierter Technik. Er beeinflusst politische Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene, etwa im Zusammenhang mit der EU-Verordnung zu Künstlicher Intelligenz (AI Act).
Kritiker bemängeln jedoch, dass der Begriff teils vage bleibe und konkrete Maßnahmen oft hinter ethischen Absichtserklärungen zurückblieben. Zudem werde er mitunter als europäisches Gegenmodell zu US-amerikanischem Technologiekapitalismus stilisiert, ohne ausreichende Umsetzungskraft.
Literatur
- Brey, Philip (2020): The Strategic Role of Technology in a Good Society: Digital Humanism in Practice. Springer.
- TU Wien (2019): Vienna Manifesto on Digital Humanism.
- Floridi, Luciano (2014): The Fourth Revolution – How the Infosphere is Reshaping Human Reality. Oxford University Press.
- dt. Ausgabe: Die 4. Revolution : Wie die Infosphäre unser Leben verändert. Aus dem Englischen von Axel Walter. Suhrkamp 2015. ISBN 978-3-518-58679-2.
- Nida-Rümelin, Julian zusammen mit Nathalie Weidenfeld (2018): Digitaler Humanismus: Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz
- Werthner, Hannes (2025): Digitaler Humanismus: Über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz
- Fuchs, Christian (2024): Radikaler Digitaler Humanismus: Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts