Die blauen Blumen

Die blauen Blumen (französischer Originaltitel: Les Fleurs bleues) ist ein 1965 erschienener Roman von Raymond Queneau.

Konstruktion des Werks

Als Motto ist dem Roman ein Ausspruch aus Platons Theaitetos in griechischen Buchstaben vorangestellt „ὄναρ ἀντὶ ὀνείρατος“ – was so viel bedeutet wie: Im Austausch für deinen Traum, hör’ dir meinen an.[A 1] In einer Anmerkung am Anfang des Buches nimmt Queneau zudem Bezug auf den sogenannten Schmetterlingstraum des chinesischen Philosophen und Dichters Tschuang-tse: Tschuang-tse träumt, er sei ein Schmetterling, aber träumt nicht vielleicht der Schmetterling, er sei Tschuang-tse?

Die zwei Hauptpersonen des Werks sind der etwas sonderbare Cidrolin, der im Jahre 1964 auf einem dauerhaft vertäuten Lastkahn lebt, und der Herzog von Auge aus dem Jahre 1264. Der Herzog bewegt sich im Verlauf der Geschichte mitsamt seinem sprechenden Streitross durch die Jahrhunderte auf Cidrolin zu. Dabei treten sie nicht zusammen auf, sondern der Roman erzählt kapitelweise abwechselnd von einem der beiden: Am Kapitelende schläft der jeweilige Protagonist ein und beginnt vom anderen zu träumen, worauf das nächste Kapitel ebendiesen Traum wiedergibt. Erst im 17. Kapitel treffen sich die beiden, als der Herzog im Jahr 1964 bei Cidrolins Lastkahn ankommt. Das Buch endet im 21. Kapitel, in dem der Herzog den Lastkahn losmacht und mit zahlreichen anderen Figuren auf dieser „Arche“ den Fluss hinauf davonfährt.

Neben dieser surrealen Verschränkung von Erzählperspektiven und Zeiten ist der Roman gespickt mit absichtlichen Anachronismen[1] sowie mit (teilweise verfälschten) Zitaten, „Anspielungen und Augenzwinkern“.[2] Zudem arbeitete Queneau mit zahlreichen Wortspielen, Archaismen, Neologismen usw., wobei er Sprachen und Sprachregister vermischte und vorsätzliche Fehlschreibungen einbaute.[3] All dies ließ den Roman anfangs beinahe „unübersetzbar“[2] erscheinen.[A 2]

Blaue Blume(n)

Der Titel kann als Verweis auf Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen gelesen werden.[A 3] Darin werden die – heute als Klischee der Romantik geltenden – blaue Blumen als Symbol der Sehnsucht und des Erkennens eingeführt: Im ersten Abschnitt Die Erwartung taucht in Heinrichs Traum eine blaue Blume auf und verwandelt sich in ein Mädchengesicht. Dieser Traum stimmt Heinrich melancholisch und wird Auslöser einer Reise. Auf diese intertextuelle Referenz bezieht sich auch Italo Calvino bei seiner Übersetzung ins Italienische.[A 4][4] Da ihm der genaue Bezug zum Inhalt aber unklar geblieben war, befragte er Queneau zum Titel. Queneau erklärte ihm die Verwendung im Französischen, wo der Ausdruck „fleur bleue“ auf ironische, (oft auch pejorative) Weise „romantische, idealistische Menschen“ bezeichne, die „nostalgisch einer verlorenen Reinheit nachhängen“.[5]

Innerhalb des Romans werden die blauen Blumen nur zweimal erwähnt:

  • Zu Beginn ruft Herzog von Auge: „Loin! Loin! Ici la boue est faite de nos fleurs“ (dt. Weit weg! Weit weg! Hier ist der Schlamm aus unseren Blumen gemacht.) Dabei handelt es sich um die minimale Abwandlung eines Verses aus Charles Baudelaires Gedichtband Les Fleurs du mal: Durch das Ändern eines einzigen Buchstabens ruft Herzog von Auge „fleurs“ statt des „pleurs“. Bei Baudelaire hieß es also: „Loin! Loin! Ici la boue est faite de nos pleurs“, (dt. Weit weg! Weit weg! Hier ist der Schlamm aus unseren Tränen gemacht.).[A 5] Wie in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen klingen auch bei Baudelaire Sehnsucht und Melancholie sowie das Aufbruchsmotiv an.
  • Am Ende von Les Fleurs bleues bedeckt eine Schlammschicht die Erde, „aber hier und da blühten bereits kleine blaue Blumen“.

Ausgaben (Auswahl)

  • Les Fleurs bleues, Éditions Gallimard, «Collection blanche» Nr. 10992, Erstausgabe 1965.
    • Die blauen Blumen, übers. ins Deutsche von Eugen Helmlé, Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1966.
    • I fiori blu, übers. ins Italienisch von Italo Calvino, Einaudi, Turin 1967.
    • Between Blue and Blue: A Sort of Novel, übers. ins Englische von Barbara Wright, Bodley Head, London 1967; auch als The Blue Flowers, New Directions Publishing, New York 1973.
    • Blå blommor, übers. ins Schwedische von Lars Hagström, Bakhåll, Lund 1995.
    • Florile albastre, übers. ins Rumänische von Val Panaitescu, Humanitas Fiction, Bukarest 2006.
    • Modre cvetke, übers. ins Slowenische von Ana Barič Moder, Sanje, Ljubljana 2011.[A 6]
    • Modri cvijetak, übers. ins Kroatische von Marija Paprašaroski, Disput, Zagreb 2014.
    • Flores azules, übers. ins Spanische von Manuel Serrat Crespo, Austral, Barcelona 2016.

Hommage

2002 erschien beim französischen Label Bleu das von Les Fleurs bleues inspirierte, gleichnamige Album von Stefano Bollani. Darauf sind Titel, die auf das Romanpersonal (Cidrolin, Il Duca) oder den Inhalt (Rever Et Reveler, Bar Biturico) abzielen. Zudem enthält es eine Einspielung des Chansons Si tu t'imagines von Joseph Kosma, der auf Queneaus gleichnamigem Gedicht basiert, sowie die Titel It Could Happen to Queneau und Raymond.[6]

Literatur

  • Jürgen Paul, "Les Fleurs bleues" von Raymond Queneau: eine Analyse des Romans unter besonderer Berücksichtigung der Symbolik (Dissertation), Romanisches Seminar der Universität Hamburg, 1973.
  • Claude Debon-Tournadre, „Le Moyen Age dans Les Fleurs Bleues de Raymond Queneau“, in: La Licorne Nr. 6, 2 (1982), S. 285–298.
  • Carol Sanders, Raymond Queneau, Rodopi, Amsterdam und Atlanta 1994, ISBN 90-5183-715-1.
  • Mohamed Bouya Taleb-Khyar, „Les Fleurs bleues de Raymond Queneau : un roman historique historique“, in: Littératures Nr. 1, 31 (1994), ISSN 0563-9751, S. 195–206, online: persee.fr (2005–2025), aufgerufen am 12. Februar 2025.
  • Calvino, Italo, „Nota del traduttore“, in: I fiori blu, Einaudi, Turin 1995, ISBN 978-88-06-17516-0, S. 265–274.
  • Anne-Marie Jaton, Lecture(s) des "Fleurs bleues" de Raymond Queneau, Edizioni Ets, Pisa 1998, ISBN 88-467-0157-7.
  • Séverine Manhaval, „Les Fleurs bleues (R. Queneau)“, in: Babel 3 (1999) S. 41–55, online auf: journals.openedition.org (21 September 2012), aufgerufen am 12. Februar 2025.
  • Paola Sosso, „Calvino, Queneau e ‘I fiori blu’“, in: Studi Francesi Nr. 150, L/III (2006), online auf: journals.openedition.org (30. November 2015), aufgerufen am 12. Februar 2025.
  • Jean-Yves Laurichesse, „Le carnaval des mots dans Les Fleurs bleues de Raymond Queneau“, in: Romanica Silesiana Nr. 4 (2009), ISSN 2353-9887, S. 244–257.
  • Monica Iovanescu und Valentina Radulescu, „Les fleurs bleues – Floriale albastre, de Raymond Queneau: Remarques sur la traduction des jeux de mots en roumain“, in: Analele Universităţii din Craiova. Seria Ştiinţe Filologice. Limbi şi literaturi romanice 20 (2016), S. 128–144.
  • Daniela Tononi, GénétiQueneau : sur la genèse de "Pierrot mon ami", "Les fleurs bleues" et "Le vol d’Icare", UGA éditions, Grenoble 2019, ISBN 978-2-37747-095-2.
  • Corinne François-Denèveet, "Les fleurs bleues", Raymond Queneau Bréal, Levallois-Perret 2022, ISBN 978-2-7495-5216-3.

Anmerkungen

  1. „En échange de ton rêve, écoute le mien“, nach: Domenica Brassel und Patrick Garcia, in Raymond Queneau, Les fleurs bleues. Lecture accompagnée par Domenica Brassel et Patrick Garcia («texte & dossier»), Gallimard, Paris, 1999 (S. 25). In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher heißt es: „Höre also einen Traum für den andern“, in: Theaitetos (142) Eukleides • Terpsion, auf: projekt-gutenberg.org (1994f). Noch knapper übersetzt es Primož Vitez: „un rêve pour un rêve“ (ein Traum für einen Traum), in: derselbe, „Les oniriques Fleurs bleues de Raymond Queneau“, in: Acta Neophilologica 45 / 1-2 (2012) S. 195, auf: researchgate.net (Dezember 2012), aufgerufen am 12. Februar 2025.
  2. Mittlerweile liegen jedoch zahlreiche Übersetzungen vor. Siehe: BnF, Les Fleurs bleues, auf: catalogue.bnf.fr (2. Mai 2024), abgerufen am 12. Februar 2025.
  3. Bernard Franco deutet Queneaus gesamten Roman als Parodie auf Heinrich von Ofterdingen. Als solche lade Les Fleurs bleues zur Reflexion über Romantik und Geschichte ein und die hinterfrage die „mythischen Ursprünge des literarischen Schaffens“. In: Derselbe „The blue flower: Birth of a Romantic cliché“, in: Revue de littérature comparée Nr. 388, (2023/4), S. 417.
  4. Überdies wollte Calvino das bleues nicht mit dem geläufigeren azzurri übersetzten, da ihm blu treffender, „nervöser“ und Queneau-mäßiger erschien. In: Italo Calvino, „Nota del traduttore“ (1995), zitiert nach: Daniel Mangano, „Quand Calvino traduisait Queneau : le parfum des fleurs bleues passe-t-il les Alpes ?“, in: Equivalences Année 34/1-2 (2007), S. 64.
  5. In Stefan Georges Nachdichtung heißt der Vers aus dem Gedicht Moesta et errabunda: „Weit · weit! der staub ist von unseren thränen hier nass“, in: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Bondi, Berlin 1901. Terese Robinson übersetzte ihn als „Schlamm ward aus Tränen und Staub. Entführe mich weit“, in: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Georg Müller Verlag, München 1925 (S. 83).
  6. Für ihre Übersetzung des Romans wurde Ana Barič Moder mit dem Radojka-Vrančič-Preis ausgezeichnet. In: Institut français de Slovénie, Prix Nodier – Lauréate, auf: institutfrance.si (2021), abgerufen am 12. Februar 2025 (französisch).

Einzelnachweise

  1. Marcel Bourdette-Donon, Usages de l’anachronisme créateur chez Raymond Queneau, in: Alain Montandon und Saulo Neiva, Anachronismes créateurs, Presses universitaires Blaise-Pascal, Clermont-Ferrand 2018, ISBN 978-2-84516-817-6 (S. 177-192), online auf: books.openedition.org (2018), aufgerufen am 12. Februar 2025 (französisch).
  2. a b Italo Calvino, zitiert nach: Paola Sosso, «Calvino, Queneau e ‘I fiori blu’», in: Studi Francesi Nr. 150, L/III (2006), online auf: journals.openedition.org (30. November 2015), aufgerufen am 12. Februar 2025.
  3. Mahvash Ghavimi und Zohreh Mirsharif, „Les jeux langagiers dans Les Fleurs bleues de Raymond Queneau“, in: Plume, Nr. 3, 1 (2006), S. 103–121, PDF online auf: sid.ir (2008), aufgerufen am 12. Februar 2025 (französisch).
  4. Daniel Mangano, „Quand Calvino traduisait Queneau : le parfum des fleurs bleues passe-t-il les Alpes ?“, in: Equivalences Année 34/1-2 (2007), S. 64–65, online auf: persee.fr (2005-2025), abgerufen am 13. Februar 2025 (französisch).
  5. Italo Calvino, „Nota del traduttore“, in: Raymond Queneau, I fiori blu (1995), S. 274.
  6. Stefano Bollani – Les Fleurs Bleues, auf: discogs.com (2025), aufgerufen am 12. Februar 2025 (englisch, französisch).