Die Menschenfresserin (Kern)

Menschenfresserin, Landesmuseum Württemberg

Die Menschenfresserin ist eine um das Jahr 1640 von Leonhard Kern gefertigte Elfenbeinstatuette. Die vollplastische Schnitzerei zeigt eine verhärmte alten Frau, die ein abgetrenntes Menschenbein verzehrt. Die nur 20 cm hohe Kleinplastik befindet sich im Landesmuseum Württemberg und wird im Rahmen der Dauerausstellung „LegendäreMeisterWerke“ gezeigt.

Beschreibung

Die aus Elfenbein gefertigte Statuette des Landesmuseums Württemberg hat eine Höhe von 20 cm. Die als Menschenfresserin titulierte alte Frau sitzt nackt auf einem schmalen Klotz, der auf einer runden, mit Gräsern bewachsenen Plinthe steht. Ein hochgeschlagenes Tuch bedeckt ihren Schambereich. Ihre etwas derb wirkenden Haare sind hinten zu einem Dutt zusammengebunden. Ihre Gesicht ist verhärmt und faltig. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Sie hält mit beiden Händen ein linkes menschliches Bein an ihren Mund. Mit herausgearbeiteten, gut sichtbaren Zähnen beißt sie in das Fleisch, welches sich oberhalb des Knies befindet und verzehrt es.[1]

Als Kontrast zu der kannibalistischen Szene sitzt zur linken Seite der Menschenfresserin (aus Sicht der Frau) ein rundlicher, wohlgenährter Knabe am Boden. Er ist ebenfalls nackt. Schaudernd wendet er seinen Körper nach links, weg von der grauenvollen Tat. Sein Kopf und sein Blick sind jedoch neugierig nach rechts gewandt, um der alten Frau beim Essen zuzusehen.[1]

Deutung

Das Sujet einer alten Frau, die in ein Menschenbein beißt, wurde von Leonhard Kern mindestens fünf Mal aufgegriffen. Drei dieser Werke sind aus Holz gefertigt und zwei aus Elfenbein. Eine der Holzstatuetten trägt Kerns Monogramm LK.[2] Die Bezeichnung diese Skulpturenreihe sowie ihre Deutung wird seit langem diskutiert. Wie Donhuijsen ausführt, benutzten Christian Scherer und Hermann Fillitz für sie den Titel „Hungersnot“ bzw. „Allegorie der Hungersnot“.[2] Dieser Hungeraspekt wird besonders in den beiden Elfenbeinstatuetten durch den Gegensatz betont, der in der Begleitung eines adipösen Kindes liegt.[1] Demgegenüber bevorzugt Michael GrünenwaldGäa“, die Erdmutter, als Bezeichnung. Hans-Ulrich Kessler vom Bode-Museum schließt sich, zumindest für die Berliner Figur, dieser Sicht an, da in dieser Figur die Frau muskulös und nicht verhungert aussehe. Auch die Bezeichnungen „Gier“ und „Geiz“ wurden vorgeschlagen.[2]

Für die Werke der Skulpturenreihe wird heute zumeist die deskriptive „funktionsnahe“ Bezeichnung „Menschenfresserin“ verwendet. Diese Bezeichnung fand sich auch in der Inventarliste der Kunstkammer der Herzöge von Württemberg für eine zum Thema passende Buchsbaumstatuette. Sie ist im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart asserviert.[3]

Datierung und Ausstellungsort

Die beschriebene Skulptur entstand um das Jahr 1640 in Schwäbisch Hall, wo sich Kern zu dieser Zeit aufhielt und arbeitete. Sie wurde 1988 aus dem Bremer Kunsthandel für das in Stuttgart liegende Württembergische Landesmuseum erworben.[1] Die Inventarnummer lautet: WLM 1988–332. Die „Menschenfresserin“ wird in der Dauerausstellung „LegendäreMeisterWerke“ gezeigt.[4]

Die erwähnten drei aus Holz gearbeiteten Statuetten befinden sich im Bode-Museum (mit Monogramm von Kern, Inv.-Nr. 8290), im Württembergischen Landesmuseum (Inv.-Nr. E 799) sowie in Privatbesitz. Die zweite Elfenbeinstatuette wurde bei einer Auktion am 13. Dezember 1990 bei Sotheby’s, London, verkauft.[5]

Einzelnachweise

  1. a b c d Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 238 (uni-heidelberg.de [PDF]).
  2. a b c Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 234 (uni-heidelberg.de [PDF]).
  3. Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 236 (uni-heidelberg.de [PDF]).
  4. Fritz Fischer: Menschenfresserin. In: bawue.museum-digital.de. Landesmuseum Württemberg, abgerufen am 2. September 2025.
  5. Konrad Donhuijsen: Inventio und Nuditas bei Leonhard Kern (1588–1662). Ein Bildhauerwerk im Dreißigjährigen Krieg. Hrsg.: Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Braunschweig 2024, S. 237, 238 (uni-heidelberg.de [PDF]).

Koordinaten: 48° 46′ 37,3″ N, 9° 10′ 46,1″ O