Die Kreatur (Zeitschrift)
Die Kreatur (DK) war eine vierteljährliche Kulturzeitschrift, die in den Jahren 1926 bis 1930 im Berliner Verlag Lambert Schneider erschien. Herausgeber waren der Jude Martin Buber, der Protestant Viktor von Weizsäcker und der Katholik Joseph Wittig. Ihr Ziel war es, die Idee des interreligiösen Dialogs praktisch umzusetzen: „[...] an diesem Tag geboten ist das Gespräch: der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eignen Beschlossenseins, die Unterredung über die gemeinsame Sorge um die Kreatur.“[1]) In einem „Zusammengehen ohne Zusammenkommen“ (DK 1.1:2) war die Zeitschrift auf einen Gedankenaustausch ausgerichtet, der die gegenseitigen Positionen von vornherein als eigenständig anerkannte.
„Religionhafte Sonderungen, aus denen es keine andere Befreiung gibt als die messianische, haben die Not und die Zucht von Exilen. […] Erlaubt aber, und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch, der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eigenen Geschlossenseins, die Unterredung in der gemeinsamen Sorge um die Kreatur. Es gibt ein Zusammengehen ohne Zusammenkommen, es gibt ein Zusammenwirken ohne Zusammenleben. Es gibt eine Einigung der Gebete ohne Einigung der Beter. Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden, gehen einander nichts an; aber Intentionen, die sich am Ziel begegnen werden, haben ein namenloses Bündnis an der von ihren Wahrheiten aus verschiedenen, aber von der Wirklichkeit der Erfüllung gemeinsamen Richtung. Wir dürfen nicht vorwegnehmen, aber wir sollen bereiten. […]. Florens Christian Rang war es, der den Plan faßte, aber nicht mehr verwirklichen konnte, eine Zeitschrift herauszugeben des Namens ‚Grüße aus den Exilen‘. Ein Jude, ein Katholik und ein Protestant sollten sich dazu vereinen. So tun es nun die drei Herausgeber. […] Was uns drei Herausgeber verbündet, ist ein Ja zur Verbundenheit der geschöpflichen Welt, der Welt als Kreatur. Der unseren drei Lehr- und Dienstgemeinschaften gemeinsame Glaube an den Ursprung wird sinnlich präsent in der Gewißheit des eigenen Erschaffenseins und dem daraus wachsenden Leben mit allem Erschaffnen.“ (Kreatur I-1, 1f) Buber sprach auch von der „Verleiblichung des dialogischen Wortes“ in dem Artikel „Zwiesprache. Urerinnerung“ (DK III, 201–222, hier 204)
Geschichte
Zur Entstehungsgeschichte berichtete Rosenstock-Huessy: „Das geheime Dreieck der Konfessionen, das in der Kreatur zur Sprache und Aussprache kam, hatte sich gegen Ende des ersten Weltkrieges schon vorgebildet. Weismantel, Rosenzweig, Barth, Hans und Rudolf Ehrenberg, Picht, und ich hatten den Patmosverlag gegründet und von 1919 bis 1920 'Die Bücher vom Kreuzweg' veröffentlicht .... In diesen Büchern vom Kreuzweg brach die wirkliche eine Welt des ersten Glaubensartikels aus den Fiktionen der 'Staatenwelt', der 'christlichen' Welt, der kirchlichen Welt, der gesellschaftlichen Welt hervor.“[2] Der „Patmos-Kreis“ war wesentlich an den Artikeln in „Die Kreatur“ beteiligt.
Rudolf Ehrenbergs programmatischer Aufsatz „Glaube und Bildung“ (DK 1.1:3–16) eröffnete die Reihe der Artikel. Martin Buber verwies mit seinem Thema „Rede über das Erzieherische. Nach einer auf der III. Internationalen Pädagogischen Konferenz in Heidelberg gesprochenen“ (DK 1.1 (1926/1927), 31–51) auf einen Schwerpunkt der Zeitschrift. Eugen Rosenstock ergänzte mit dem Thema „Lehrer oder Führer? Zur Polychronie des Menschen“ (DK 1:1:52–68). Weitere Mitwirkende/Autoren waren zahlreiche Gelehrte wie Walter Benjamin, Nikolai Berdjajew, Hugo Bergmann, Hans Ehrenberg, Hermann Herrigel, Ernst Löwenstein, Werner Picht, Franz Rosenzweig, Ernst Simon, Dolf Sternberger oder Margarete Susman.
Bereits nach zwei Jahrgängen war die Situation der Zeitschrift kritisch. Die Anzahl der Abonnenten lag bei 250 Stück. Rosenzweig: „Dagegen geht Lambert Schneider das Wasser an die Kehle. Er hat sich mit seinen kühnen jüdischen Unternehmungen – Bibel, Juda Halevi und in gewissen Sinn ja auch Kreatur vollkommen kaputt gemacht.“[3] Doch der Verleger Lambert Schneider hatte an Buber geschrieben: „Vielleicht mache ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag noch eine Freude, wenn ich Ihnen meinen Entschluß mitteile, daß ich Die Kreatur noch ein drittes Jahr halten will. Ich kann mich nicht entschließen, sie eingehen zu lassen.“[4] Nach drei Jahrgängen wurde die Zeitschrift 1930 dann aus Mangel an geeigneten Beiträgen eingestellt. Den letzten Artikel der letzten Ausgabe widmete Buber seinem verstorbenen Freund Franz Rosenzweig. Er schrieb: „Wir wollen diese Zeitschrift, die wir im Gedächtnis Florens Christian Rangs begonnen haben, im Gedächtnis Franz Rosenzweigs beschließen [....] Was sie sagen und wirken durfte, möge allezeit mit der Erinnerung an diese zwei großen Bekenner der Einen Wirklichkeit verknüpft sein.“ (DK 3 (1929/1930), 424) Das letzte Heft enthält dann Texte „Aus Franz Rosenzweigs Nachlaß.“ Josef Wittig schrieb nach dem Ende der Kreatur an Buber: „Die Zeitschrift ist in sich vollendet, wie ein mehrbändiges Buch in sich vollendet ist.“[5]
Ein Neudruck der Zeitschrift erfolgte 1969 bei Nendein, Liechtenstein. Im Jahr 1997 erschien aus Anlass des ersten Ökumenischen Kirchentags eine Anthologie mit wesentlichen Aufsätzen der Zeitschrift.[6]
Artikelliste
Die Liste ist unvollständig, zeigt aber bereits das breite Spektrum der Themen und Autoren.
I.
- Rudolf Ehrenberg: „Glaube und Bildung“ (DK I, 3–16)
- Martin Buber: „Rede über das Erzieherische. Nach einer auf der III. Internationalen Pädagogischen Konferenz in Heidelberg gesprochenen“ (DK I, 31–51)
- Eugen Rosenstock: „Lehrer oder Führer? Zur Polychronie des Menschen“ (DK I, 52–68)
- Josef Wittig: „Volk von Neusorge“ (DK I, 87–103)
- Florens Christian Rang: „Das Reich“ (DK I/104–123)
- Franz Rosenzweig: „Die Schrift und das Wort. Zur neuen Bibelübersetzung“ (DK I, 124–130)
- Alfons Paquet: „Florens“ (DK I/131–134). Nachruf auf Florens Christian Rang (1864–1924)
- Hermann Herrigel: „Vom prinzipiellen Denken“ (DK I, 135–158)
- Mikhail Gerschenson/Wjateslav Iwanow: „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerecken“ (DK I, 159–199)
- Eduard Strauss: „Franziskus“ (DK I, 214–229 (1. Die Elemente); I, 336–360 (2. Werk und Gestalt); I, 468–484 (3. Der Sinn))
- Albert Mirgeler: „Der Weg der kommenden Generation. Eine Erwiderung auf Eugen Rosenstocks ‚Lehrer oder Führer‘“ (DK I, 230–244)
- Leo Schestow: „Wissenschaft und frei Forschung“ (DK I, 247–267)
- Marie Luise Enckendorff: „Zur Frage der Erziehung. Bruchstücke“ (DK I, 304–314)
- Viktor von Weizsäcker: „Die Schmerzen“ (DK I, 315–335)
- Eugen Rosenstock: „Führer oder Lehrer? Zwei Stimmen aus der Jugendbewegung“ (DK I, 361–366)
- Rudolf Ehrenberg: „Gottesreich und organisches Leben“ (DK I, 370–408)
- Ernst Michel: „Über eine Lehrstätte für Arbeiter. Eine Auseinandersetzung“ (DK I, 426–437)
- Heinrich Sachs: „Vom Leben und Bilden einiger Kinder“ (DK I, 438–467)
- Viktor von Weizsäcker: „Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie“ (1. Jg. 1926/27)
II.
- Florens Christian Rang: „Glaube, Liebe und Arbeitsamkeit: Ein Brief an Walther Rathenau“ (DK II, 34–70)
- Walter Benjamin: „Moskau“ (DK II, 71–101)
- Rudolf Ehrenberg: „Gewissen und Gewusstes“ (DK II, 135–147)
- Werner Picht: „Internationale Verständigung“ (DK II, 148–157)
- Eugen Rosenstock: „Kirche und Arbeit“ (DK II, 158–180)
- Nikolaj Berdjajew: „Das Ende der Renaissance“ (DK II, 102–122; II, 227–244)
- Justus Schwarz: „Die Wirklichkeit des Menschen in Rilkes letzten Dichtungen“ (DK II, 200–221)
- Martin Buber: „Chassidische Geschichten“ (II, 222–226)
- Erich Klatt: „Geschichtliche Begründung der Gegenwart“ (DK II, 245–248)
- Ludwig Strauß: „Natur und Gemeinschaft. Stücke einer Hölderlin-Biographie“ (DK II, 295–320)
- Florens Christian Rang: „Historische Psychoöogie des Karnevals“ (DK II, 311–343)
- Edgar Dacqué: „Die Ursinnessphäre“ (DK II, 344–355)
- Hugo Bergmann: „Der Physiker Whitehead“ (DK II, 356–363)
- Hans Ehrenberg: „Amt. Ein Rundbrief“ (DK II, 364–368)
- Leo Schestow: „Kinder und Stiefkinder der Zeit. Das historische Los Spinozas“ (DK II, 369–396)
- Ernst Simon: „Das Werturteil im Geschichtsunterricht“ (DK II, 442–454)
- Edith Klatt: „Über Kranksein und Heilen“ (2. Jg. 1927/28)
- Joseph Wittig: „Aus meiner letzten Schulklasse“ (2. Jg. 1927/28)
- Joseph Wittig: „Im Anfang“ (2. Jg. 1927/28)
- Joseph Wittig: „Das Geheimnis des ,und‘“ (2. Jg. 1927/28)
III.
- Rudolf Ehrenberg: „Über das Dogma“ (DK III, 15–28)
- Eberhard Grisebach: „Altes und Neues Denken. Kritische Bemerkungen und Fragen zu Hermann Herrigels Buch ‚Das neue Denken‘“ (DK III, 29–37)
- Hermann Herrigel: „Das Verhältnis der beiden Welten, Bemerkungen zu Eberhards Buch ‚Gegenwart. Eine kritische Bilanz‘“ (DK III, 38–52)
- Hans Trüb: „Eine Szene im Sprechzimmer des Arztes“ (DK III, 53–60)
- Florens Christian Rang: „Betrachtung der Zeit“ (DK III, 86–100)
- Karl Nötzel: „Die Verwirklichung des Menschen im Russen“ (DK III, 118–136)
- Josef Wittig: „Der Weg zur Kreatur“ (DK III, 137–157)
- Hermann Herrigel: „Brief an Eberhard Griesebach“ (DK III, 175–189)
- Ernst Loewenthal: „Über den Eid“ (DK III, 190–200)
- Martin Buber: „Zwiesprache. Urerinnerung“ (DK III, 201–222)
- Edgar Dacqué: „Der Mensch als Urform“ (DK III, 223–235)
- Eberhard Griesebach: „Die Grundentscheidung des existenziellen Denkens und ihre Kritik. Antwort an Hermann Herrigel“ (DK III, 263–277)
- Florens Christian Rang: „Ein Brief. Braunfels“, 10. August 1921 (DK III, 278–289)
- Hans Ehrenberg: „Drinnen und Draußen – Drunten und Droben. Kreatürliche Glossen zu Goethes Pädagogischer Provinz“ (DK III, 297–307)
- Hans Trüb: „Aus einem Winkel meines Sprechzimmers“ (DK III, 403–420)
- Buber, M., von Weizsäcker, V. und Wittig, J.: „Rosenzweigs Nachlass“ (DK III, 424–434)
- Ludwig Strauss: „Der Mensch und die Dichtung“
Literatur
- Gustav Frank: Die Kreatur und Walter Benjamins Periodika-Netzwerk der 20er Jahre. Neue Zugänge der Zeitschriftenforschung, in: Naharaim 13 (1–2) 2019, S. 29–71
- Werner Licharz: "Martin Buber auf dem schmalen Grat schöpfungsgläubiger Humanität": Martin Buber in und um die Zeitschrift "Die Kreatur", in: Josef Hainz (Hrsg.): Abschied vom Gott der Theologen: zum Gedenken an Joseph Wittig (1878–1949) – fünfzig Jahre nach seinem Tod; Dokumentationen, Eppenhain, Selbstverlag 2000, S. 223–240
- Gert Mattenklott, „Spuren eines gemeinsamen Weges. Deutsch-jüdische Zeitschriftenkultur 1910–1930“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 42.7 (1988), 570–581
- Christoph Michel: „Die Kreatur“ – eine Zeitschrift (1926–1930). Konzepte, Realisation, Wirkung, in: Josef Hainz (Hrsg.): Abschied vom Gott der Theologen. Zum Gedenken an Joseph Wittig (1879–1949) – fünfzig Jahre nach seinem Tod. Eppenhain, Selbstverlag 2000, 196–223.
- Christoph Michel, „Die Kreatur. Eine Zeitschrift 1926–1930“, in: Die Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 15.59 (1976), 7078–7092
- Lothar Müller: „… daß die Stummheit der letzten Jahrhunderte aufhört.“ Franz Rosenzweigs Beziehungen zur Zeitschrift „Die Kreatur“, in: Die Kreatur. Anthologie einer ökumenischen Zeitschrift, Herausgegeben im Auftrag der Guardini Stiftung von Hans Dieter Zimmermann, Schriftenreihe des Forum Guardini, Bd. 11, Dreieck Verlag, 1997, S. 1–23
- Elizabeth Petuchowski, „Die erste jüdisch-christliche Zeitschrift ‚Die Kreatur‘“, in: Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 3 (1996), 111–120 (online)
- Eugen Rosenstock-Huessy, „Rückblick auf ‚Die Kreatur‘“, in: ders., Ja und Nein. Autobiographische Fragmente, Lambert Schneider, Heidelberg 1968, S. 107–118.
- Enrico Rosso: Ein „Zusammengehen ohne Zusammenkommen“. Der Entstehungsprozess des intellektuellen Netzwerkes um die Zeitschrift Die Kreatur, in: Naharaim 13 (1–2) 2019, S. 73–97
- Knut Martin Stünkel: „Über die katholische Stimme im Religionsgespräch der Moderne. Ernst Michel und der ‚Kreatur‘-Kreis“, in: Walter Hömberg und Thomas Pittrof (Hrsg.), Katholische Publizistik im 20. Jahrhundert. Positionen, Probleme, Profil, Rombach, Freiburg 2014, S. 333–356.
- Daniel Weidner: “Going together without coming together”: “Die Kreatur” (1926–1929) and Why We Should Read German Jewish Journals Differently, in: Naharaim 10(1) 2016, S. 103–126
Weblinks
- Eugen Rosenstock-Huessy: Rückblick auf "Die Kreatur", Auszug aus Ja und Nein, S. 107–118
- Die Zeitschrift »Die Kreatur« (1926–1930) als Netzwerk und Diskursmedium, Programm eines Workshops an der Hebräischen Universität Jerusalem am 11. Und 12. Januar 2017
- Die Zeitschrift Die Kreatur (1926-1930) als Netzwerk und Diskursmedium bei h/soz/kult
- Die Kreatur : eine Zeitschrift / hrsg. von Martin Buber ; Viktor von Weizsäcker [u.a.], Hinweis auf die Sammlung bei der Universitätsbibliothek Frankfurt
Einzelnachweise
- ↑ Martin Buber/Viktor von Weizsäcker/Joseph Wittig, „Vorwort“, in: Die Kreatur 1.1 (1926/1927)
- ↑ Eugen Rosenstock-Huessy: „Rückblick auf 'Die Kreatur'“, in: Lambert Schneider (Hrsg.): Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925–1965. Ein Almanach, Heidelberg, 1965, S. 95–195, hier S. 95.
- ↑ Brief Franz Rosenzweig an Leo Baeck, Mai 1929, S. 1210, Nr. 1239, in: Der Mensch und Sein Werk. Briefe und Tagebücher, Springer 2011, mit der Bitte nicht den „Stern der Erlösung“, sondern diese Werke zu fördern.
- ↑ Brief Lambert Schneider vom 7. Februar 1928, in: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Lambert Schneider, Heidelberg 1972–1975, Bd. II: 1918–1938, S. 307, Nr. 267
- ↑ Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Lambert Schneider, Heidelberg 1972–1975, Bd. II: 1918–1938, S. 374, Nr. 339, 18. April 1930
- ↑ Die Kreatur Anthologie einer ökumenischen Zeitschrift, Herausgegeben im Auftrag der Guardini Stiftung von Hans Dieter Zimmermann, Schriftenreihe des Forum Guardini, Bd. 11, Dreieck Verlag, 1997 (Inhaltsverzeichnis)