Die Elster auf dem Galgen (Roman)

Die Elster auf dem Galgen (Сарока на шыбеніцы) ist ein belarussischer Roman von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2009. Er verbindet Elemente der Dystopie, des Kriminal-, Liebes- und Bildungsromans sowie der „Emigrationsprosa“.[1]

Aufbau

Dem Roman ist ein Zitat aus Edgar Allan Poes Erzählung Berenice[A 1] vorangestellt: „Alas! the destroyer came and went / – and the victim – where is she?“[A 2] Dem Motto folgt eine knapp halbseitige metafiktionale Überlegung des Ich-Erzählers über „jetzt modern[es]“ Geschichtenerzählen, das am Ende anfängt. Dann beginnt die Geschichte der jungen Belarussin Vieranika Baćkaŭa mit dem Hinweis: „In circa fünf Minuten ist sie tot.“[2] Als Ich-Erzähler tritt Vieranikas Ex-Freund auf. Dieser lebt im „freiwilligen Exil“,[3] in einer „regenreichen nördlichen Hafenstadt“ im „Land der Windkraftanlagen“.[A 3][4] Seine Erzählung beinhaltet vier Hauptstränge. Dominierend sind die drei über Vieranika, d. h.

  • Episoden aus ihrem „politisch unbedarften“[5] Leben: wie aus einem unschuldigen Mädchen eine vom System überzeugte, loyale Mitarbeiterin des staatlichen Sicherheitsdienstes wurde
  • Episoden ihrer virtuellen Existenz: wie sie sich in einem Online-Rollenspiel als Regima neu entwarf und zuerst zu Schneewittchen wurde, dann aber an den tyrannisch-perversen Lex geriet und sich in sadomasochistische „freiwilligen Sklaverei“[3] begab – was in digitaler Mordkomplizenschaft mündete
  • Beschreibungen ihrer Ermordung, ihres Sterbens sowie ihres toten Körpers bei der Obduktion.

Der vierte Erzählstrang behandelt das Exilleben des (im Text namenlos bleibenden) Ich-Erzählers.

Der Roman ist in 12 Kapitel untergliedert. Diese geben Vieranikas Leben nicht chronologisch wieder, sondern sind laut Bacharevič „zwölf Reisen durch den Körper einer Frau.“[6] Jedes Kapitel bezieht sich auf eines ihrer Körperteile: Haar, Beine, Ohren, Zunge, Nase, Bauch, Vagina, Zähne, Lippen, Brüste, Finger und Augen. Dabei wird die Geschichte immer wieder unter anderen Aspekten dargestellt. Eingeflochten sind Exkurse des Ich-Erzählers über:

Herkunft und Deutung des Titels

Bruegels Landschaft mit der Elster auf dem Galgen, 1568

Der Romantitel bezieht sich auf das gleichnamige Gemälde von Pieter Bruegel der Ältere.[A 4] Der Roman spielt in einer „teilweise auffällig an Belarus erinnernden“[3] postsowjetischen Diktatur, in der Nonkonforme als „Faschisten“ gelten und in „Virtuelle Konzentrationslager“ (VKZ) verbracht werden.[A 5][9] Vieranika ist als Beamtin in der VKZ-Verwaltung tätig. Wie die Elster im Bruegels Gemälde kümmert es sie nicht, in welch grausamem Umfeld sie sich befindet[6] – was Vieranikas „unreflektierten Systemgläubigkeit“ zeigt.[3]

Ewa Szarkowska verweist auf die Mehrdeutigkeit des Titels, der durch die politische Situation in Belarus eine besondere Aufladung erfahre: So symbolisiere die Elster die Lüge. Auch habe sie bereits in der germanischen und keltischen Mythologie als Vorbote des Todes gegolten. Neben den vordergründigen Deutungen des Galgens beschreibt Szarkowska diesen auch als Aussichtsplattform der Elster und damit als Symbol allgegenwärtiger Überwachung.[1] Ulrike Baureithel sieht zudem einen Bezug zwischen Erzählstruktur und dem titelgebenden Gemälde, „bei dem der Betrachter die Elster auf dem Galgen auch erst nach und nach wahrnimmt“.[5] Auch von Vieranika entsteht erst allmählich ein vollständiges Bild.

Das Gemälde selbst begegnet Vieranika während einer Vorlesung als unscharfe Dia-Projektion auf einer beschriebenen Tafel: „Ein Bild eben, Michelangelo-Raffael-Leonardodavinci, einer von ihnen würde es schon sein. Viel Wald, ein Stück Himmel, Berge. Irgendetwas Verschwommenes im Vordergrund.“[10] Im Exil hat der Ich-Erzähler eine Reproduktion des Gemäldes in seinem Zimmer aufgehängt und sieht nun mehr darauf als in seiner Heimat: „Zum Beispiel sehe ich jetzt endlich die Elster. Früher habe ich nur den Galgen gesehen.“[11] In einem seiner Exkurse kolportiert er einen möglichen Subtext des Bildes: In den Spanischen Niederlanden sei der Tod allgegenwärtig gewesen und habe deshalb seinen Schrecken verloren. Der Ich-Erzähler verwirft jedoch alle Interpretationsansätze und postuliert, Bruegel habe bei seinem Gemälde hauptsächlich Schönheit im Sinn gehabt.[12]

Intertextuelle Referenzen

Bacharevič bezeichnete Die Elster auf dem Galgen als Hommage an seine „Meister“ James Joyce, Vladimir Nabokov, Franz Kafka sowie an Witold Gombrowicz.[13]

Im Text finden sich zahlreiche Anspielungen und Zitate u. a. aus Jorge Amados Dona Flor und ihre zwei Ehemänner, Joseph Brodskys Briefe an einen römischen Freund, Lewis Carrolls Alice im Wunderland, Paulo Coelhos Veronika beschließt zu sterben, Wladislaw Chodassewitschs Europäische Nacht, Friedrich Engels’ Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Gogols Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, Wilhelm Hauffs Das kalte Herz,[A 6] Franz Kafkas Die Verwandlung, Vladimir Nabokovs Sieh doch die Harlekine!, Ilf & Petrows Das goldene Kalb, Poes Berenice, Jules Vernes Die Kinder des Kapitän Grant sowie Die große kosmische Reise (Regie: Walentin Michalkow, UdSSR 1974) und Die schwarze Katze (1979).

Ausgaben

  • Сарока на шыбеніцы (Roman), Minsk: Lohvinaŭ, 2009, ISBN 978-985-6901-08-2.
    • Die Elster auf dem Galgen, übers. ins Deutsche von Thomas Weiler, Leipzig: Leipziger Literaturverlag, 2010, ISBN 978-3-86660-104-8.
    • Sroka na szubienicy, übers. ins Polnische von Igor Maksymiuk und Jan Maksymiuk, Sejny: Pogranicze, 2021, ISBN 978-83-66143-34-0.

Würdigungen

Der Roman stand in seiner polnischen Übersetzung 2022 auf der Shortlist des Literacka Nagroda Europy Środkowej Angelus.[14]

Anmerkungen

  1. Einzelne Körperteile der weiblichen Hauptfigur spielen in Poes Erzählung – wie auch in Bacharevičs Roman – eine herausgehobene erzählerische Rolle.
  2. „Der Zerstörer kam und ging! Und das Opfer — wo blieb es?“, übersetzt von Gisela Etzel, in: Edgar Allan Poe, Ligeia und andere Novellen, Berlin: Propyläen-Verlag, 1920, online auf: gutenberg.org (1995ff), abgerufen am 19. Februar 2025.
  3. Bacharevič lebte zwischen 2007 und 2013 im Exil in Hamburg, dessen Örtlichkeiten und Eigenheiten im Roman immer wieder durchscheinen. In: Alhierd Bacharevič, auf: belarusprofile.skaryna.org.uk (27. November 2015), und Thomas Weiler, Bestens präpariert. Al’herd Bacharėvičs Roman Die Elster auf dem Galgen, auf: novinki.de (19. November 2010), beide abgerufen am 19. Februar 2025.
  4. Volkstümliche Vorstellungen verbinden Elstern mit Klatsch und Geschwätz, welche ihrerseits an den Galgen führen sollen. In: Robert L. Bonn, Painting Life: The Art of Pieter Bruegel the Elder Syracuse University Press, 2007, ISBN 978-1884092121 (S. 106) und Kerstin Richter, Non-Standard Bird Names in England, Bavaria and Austria: A Diachronic Comparative Study, (Dissertation) Regensburg: Universität Regensburg, 2018 (S. 373–378). Der auf Bruegels Gemälde abgebildete Galgen ist eine unmögliche Konstruktion, die in Wirklichkeit nicht stehen bliebe. Die am Richtplatz tanzenden und defäkierenden Bauern werden als Missachtung von Tod und Obrigkeit gedeutet. In: Rose-Marie und Rainer Hagen, Pieter Bruegel d. Ä. um 1525–1569. Bauern, Narren und Dämonen, Köln: Taschen Verlag, 1999, ISBN 3-8228-6590-7 (S. 81). Zur Rolle des Galgens in der belarussischen Gegenwartsliteratur siehe: Yaraslava Ananka und Heinrich Kirschbaum, Der Fluch des Viktimismus: Die belarussische Gegenwartsdichtung im Teufelskreis der Martyrologie, in: Eva Binder et al., Opfernarrative in transnationalen Kontexten, Berlin: De Gruyter, 2020, ISBN 978-3-1106-7359-3 (S. 203–234). Weitere im Roman erwähnte Gemälde von Bruegel sind Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, Zwölf Sprichwörter und Die niederländischen Sprichwörter.
  5. Etwa elf Jahre nach der Veröffentlichung des Romans sollen während der Proteste in Belarus 2020–2021 tatsächlich KZ-ähnliche Lager genutzt worden sein, um Oppositionelle zu internieren. In: Tony Wesolowsky et al., Detained Belarusian Protesters Describe August Stay In Internment Camp, auf: rferl.org (29. Januar 2021), abgerufen am 19. Februar 2025 (englisch).
  6. Im gleichen Jahr wie Die Elster auf dem Galgen erschien auch das von Bacharevič ins Belarussische übersetzte Hauffsche Märchen: Халоднае сэрца: казка. Minsk: Halijafy, 2009, ISBN 978-985-6906-30-8.

Einzelnachweise

  1. a b Ewa Szarkowska, Sroka i tajemnice władzy, in Epea. Pismo literackie Nr. 1, 2022 (8), S. 126–128, PDF online auf: ksiaznicapodlaska.pl (29. November 2023), abgerufen am 19. Februar 2025 (polnisch).
  2. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 5.
  3. a b c d Thomas Weiler, Bestens präpariert. Al’herd Bacharėvičs Roman Die Elster auf dem Galgen, auf: novinki.de (19. November 2010), abgerufen am 19. Februar 2025.
  4. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 199 und 87.
  5. a b Ulrike Baureithel, Die Elster auf dem Galgen: Schneewittchens Sarg, auf: tagesspiegel.de (1. August 2011), abgerufen am 19. Februar 2025.
  6. a b Jan Maksymiuk, Miłość i fetysz w czasach dyktatury, auf: czasopis.pl (15. Februar 2022), abgerufen am 19. Februar 2025 (polnisch).
  7. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 236.
  8. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 222.
  9. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 58 und 102.
  10. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 233.
  11. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 88.
  12. Bacharevič (2010), Die Elster auf dem Galgen, S. 234.
  13. Jan Maksymiuk, Moja Białoruś będzie ze mną zawsze (cz. 1), Gespräch mit Bacharevič auf: Gespräch mit Bacharevič (16. März 2022), abgerufen am 19. Februar 2025 (polnisch).
  14. Magdalena Talik, Nagroda Angelus i Nagroda Silesius 2022. Poznajcie zakwalifikowane książki, auf: wroclaw.pl (04. April 2022), abgerufen am 19. Februar 2025 (polnisch).