Cyberaktivismus

Cyberaktivismus (auch: Cyberprotest, E-Protest, Internetaktivismus oder Online-Aktivismus) bezeichnet den Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien für politische und gesellschaftliche Protest- und Beteiligungsformen, etwa über soziale Netzwerke, E-Mail-Kampagnen, Online-Petitionen oder digitale Medien. Aktivisten verwenden Websites, Foren, Podcasts, Wikis sowie Plattformen wie Twitter/X, Facebook oder Instagram zur Framing, Identitätsbildung, Mobilisierung und Netzwerkbildung und haben so neue Formen von Protest und politischer Teilhabe etabliert.

Bedeutung des Internets für soziale Bewegungen

Bereits in den 1990er-Jahren nutzten Akteure neuer sozialer Bewegungen das Internet, um ihre Ideologien und organisatorischen Strukturen zu verbreiten. Digitale Kommunikationsmittel ermöglichten eine schnelle, grenzüberschreitende Mobilisierung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Frühbeispiele sind die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) und das Netzwerk Peoples Global Action. Der Soziologe Dieter Rucht betonte jedoch, dass rein digitale Protestformen (etwa eine frühe Online-Demonstration gegen Lufthansa) Ausnahmen blieben; hybride Online-/Offline-Aktivismen dominierten.[1]

Typen von Cyberaktivismus

Laut Sandor Vegh lassen sich folgende Formen unterscheiden:[2]

  1. Advocacy: Bereitstellung und Verbreitung von Informationen, Foren für Diskussion und E-Lobbying.
  2. Organisation/Mobilisierung: Aufrufe zu Online- oder Offline-Aktionen via Petitionen oder E-Mail.
  3. Aktion/Reaktion: Hacktivismus, digitale Kampagnen, Cyber-Angriffe.

Cyberaktivismus in Deutschland

In Deutschland haben sich verschiedene Plattformen und Bewegungen etabliert, die digitalen Aktivismus für politische Teilhabe nutzen:

  • Campact / WeAct – Campact ist seit 2004 ein zentrales Kampagnennetzwerk. Mit E-Mail-Mobilisierungen und Online-Petitionen erreicht die Organisation Millionen Unterstützer. Seit 2016 ermöglicht die Plattform WeAct, Teil des Campact-Netzwerks, Bürgerinnen und Bürgern eigene Petitionen einzureichen. WeAct zählt rund 3 Millionen Unterstützende und hat wiederholt politische Debatten beeinflusst.[3]
  • Change.org – Die internationale Petitionsplattform ist seit 2011 auch in Deutschland aktiv. Sie hat zahlreiche Kampagnen zu ökologischen, sozialen und politischen Themen ermöglicht und gehört weltweit zu den größten Online-Petitionsseiten.[4]
  • Avaaz – Eine global agierende Online-Bewegung, die ab 2007 auch in Deutschland aktiv ist. Sie setzt auf Petitionen, E-Mail-Mobilisierung und medienwirksame Aktionen. 2012 übergab Avaaz eine Petition mit über 100.000 Unterschriften gegen politische Korruption an den Bundestag.[5]
  • innn.it – 2022 entstand die Plattform innn.it, initiiert vom deutschen Team von Change.org. Sie versteht sich als gemeinwohlorientierte Alternative und unterstützt Petitionsstarter redaktionell und kommunikativ. Im Streit um ihre Gemeinnützigkeit bekam sie 2023 vom Finanzgericht Berlin-Brandenburg Recht.[6] 2025 verzichtete sie bewusst auf einen weiteren Rechtsstreit, um ihren demokratischen Handlungsspielraum zu erweitern.[7]
  • OpenPetition – Seit 2010 bietet die Plattform Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, eigene Petitionen zu starten. Sie wird vielfach für lokale Initiativen genutzt und verknüpft digitale mit parlamentarischen Beteiligungsformen.[8]
  • Fridays for Future (digital) – Aufgrund der Pandemie verlegte die Bewegung ihre Demonstrationen am 24. April 2020 ins Digitale. Aktivisten wie Luisa Neubauer legten Protestplakate vor den Berliner Reichstag, während der „Streik fürs Klima“ per Livestream übertragen wurde – als Ersatz für öffentliche Proteste.[9]
  • Upload-Filter-Proteste (Artikel 13 / DSM-Richtlinie) – 2019 fanden in Deutschland massenhafte Proteste gegen die geplante EU-Richtlinie zum Urheberrecht (insbesondere Artikel 13, später Artikel 17) statt. Am 23. März demonstrierten allein in München etwa 40.000 Menschen unter dem Motto »Save your Internet«. In ganz Deutschland gingen insgesamt bis zu 100.000 Personen auf die Straße. Die Proteste umfassten Online-Kampagnen, Petitionen und medienwirksame Aktionen wie Blackouts von Wikipedia-Seiten.[10][11]

Kritik

Cyberaktivismus wird aus verschiedenen Perspektiven kritisch betrachtet:

  • Slacktivism oder „One-Click-Protest“ – Kritiker bemängeln, dass durch einfache Klickaktionen wie Liken oder Teilen symbolischer Aktivismus statt echter politischer Wirksamkeit entsteht. Presseberichte bezeichnen dies als „Sofa-Aktivismus“ oder „eine Beteiligung für Bequeme“.[12][13] Eine wissenschaftliche Auswertung nennt „Superficial Engagement“ als zentrale Kritik an Slacktivism.[14]
  • Fragmentierung der Öffentlichkeit & Filterblasen – Algorithmen erzeugen Informationsräume, die Nutzer tendenziell abschirmen, was zu medialen „Blasen“ führt.[15] Der Begriff Cyber-Balkanisierung beschreibt eine weitergehende Zersplitterung des Internets in voneinander abgeschottete Teilräume.[16]
  • Digitale Ungleichheit (Digital Divide) – Unterschiede im Zugang zu Internet und geeigneter Technik erschweren gleichberechtigte Teilhabe am Online-Aktivismus. Studien verweisen darauf, dass soziale Ungleichheiten sich im digitalen Raum fortsetzen.[17]
  • Kommerzialisierung & Transparenzprobleme – Viele Plattformen finanzieren sich durch Nutzerdaten oder Spendenmodelle. Kritiker weisen darauf hin, dass Personalisierung und Filterung nicht grundsätzlich problematisch sind, aber intransparent erfolgen und einseitige Manipulation ermöglichen können.[18]

Siehe auch

Literatur

  • Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip & Johanna Niesyto (Hrsg.): Political Campaigning on the Web. Transcript, Bielefeld 2009.
  • Ulrich Dolata & Jan-Felix Schrape (2013): »Zwischen Individuum und Organisation. Neue kollektive Akteure und Handlungskonstellationen im Internet.«
  • Wim van de Donk, Brian D. Loader, Paul G. Nixon, Dieter Rucht (Hrsg.): Cyberprotest. New Media, Citizens and Social Movements. Routledge, 2004.
  • Evgeny Morozov: The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom. PublicAffairs, 2011.
Commons: Cyberaktivismus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rucht, Dieter (2005): Cyberprotest. Möglichkeiten und Grenzen netzgestützter Proteste. (Memento vom 6. September 2014 im Internet Archive) (PDF; 96 kB)
  2. Vegh, Sandor (2003): Classifying Forms of Online Activism. In: Martha McCaughey & Michael D. Ayers (Hrsg.): Cyberactivism. Online Activism in Theory and Practice. Routledge.
  3. Campact: Fünf Plattformen für deine Online-Petition, Campact Blog, 2024.
  4. Petitionen im Netz: Klicktivismus oder Demokratie?, Süddeutsche Zeitung, 2014.
  5. Avaaz übergibt Petition an Bundestag, Der Spiegel, 2012.
  6. taz: Gericht gibt Petitionsplattform recht, 2023.
  7. GFF: Demokratie fördern – innn.it, 2025.
  8. Tagesspiegel: Das Netz als Petitionsplattform, 2009.
  9. AP/dpa: Climate activists take global protest online during pandemic, KSAT, 24. April 2020.
  10. Netzpolitik.org: Zehntausende demonstrieren gegen Uploadfilter, 2019.
  11. Tagesschau: Proteste gegen Uploadfilter, 2019.
  12. Tagesspiegel: Facebook und die Illusion der Massenproteste, 2010.
  13. Süddeutsche Zeitung: Slacktivism – Das machen doch nur Faule, 2013.
  14. Zohouri, M. (2020): Slacktivism: A Critical Evaluation. Journal of Cyberspace Studies, University of Tehran. Online
  15. Pariser, Eli (2011): The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding from You. Penguin Press.
  16. Van Alstyne, Marshall; Brynjolfsson, Erik (2005): Global Village or Cyber-Balkans? Modelling and Measuring the Integration of Electronic Communities. Management Science 51(6).
  17. Norris, Pippa (2001): Digital Divide: Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide. Cambridge University Press.
  18. Turow, Joseph (2011): The Daily You: How the New Advertising Industry Is Defining Your Identity and Your Worth. Yale University Press.