Boelwerf

Die Boelwerf, 1829 gegründet, war eine Schiffswerft am linken Ufer der Schelde in Temse, Belgien. Sie bestand bis 1992 und operierte danach noch einmal kurzzeitig unter der Regie der flämischen Regionalregierungs-Holding GIMV[1] von 1993 bis zum endgültigen Konkurs im November 1994 unter dem Namen N.V. Boelwerf Vlaanderen.

Anfänge

Im Jahre 1829 gründete Bernard Boel (1798–1872), der zuvor als Schiffszimmerer in Antwerpen gearbeitet hatte, in Temse auf etwa 1 ha eine kleine Werft für hölzerne, auf Binnengewässern verkehrende Segelschiffe, mehrheitlich Tjalken, von 50 bis 80 Tonnen Größe. Während der ersten 50 Jahre blieb der Betrieb bescheiden, baute nur ein oder zwei Schiffe pro Jahr[2] und beschäftigte nur wenige Arbeiter (noch 1890 nur vier). Unter Bernard Boels Sohn und Nachfolger Jozef Boel (1832–1914) expandierte der Betrieb, insbesondere mit der 1890 erfolgten Einweihung eines überdachten Baudocks, womit mehr und größere Schiffe gebaut werden konnten. Das erste eiserne Schiff, die De Vijf Gebroeders, eine Péniche, deren Maße den französischen Kanälen und Schleusen angepasst waren, wurde 1895/96 gebaut, und die Zahl der jährlichen Auslieferungen nahm kontinuierlich zu. Dabei handelte es sich weiterhin nur um Fahrzeuge für Binnengewässer.

Expansion

Im Jahre 1904 übernahmen Jozef Boels Söhne César (1868–1941) und Frans Boel (1870–1943) den Betrieb, der daraufhin unter der Bezeichnung Boel et Fis fungierte und weiter expandierte. César war technischer Leiter, während Frans sich um das Kaufmännische kümmerte. Der von 1909 bis 1912 durch die Regierung unternommene Bau der Kaianlagen und einer Pier am Nordufer der Schelde bis zur Scheldebrücke war dem Werftbetrieb sehr förderlich. Allmählich wuchsen die Zahl der gebauten Schiffe, wie auch deren Größe und die Zahl der Arbeiter. Gebaut wurden eine Vielzahl verschiedener Schiffstypen: Schuten, Schleppkähne für verschiedene Wasserstraßen, Pénichen, Motorboote, Raddampfer sowohl mit Heck- als auch mit Seitenradantrieb, dampfgetriebene Schlepper usw. Im Jahre 1911 wurde mit dem Bau des 113 Meter langen, 3035 tdw Rhein-Kahns Graaf de Smet de Naeyer (Baunummer 230),[3] dem damals größten Binnenschiff Europas, ein Meilenstein in der Betriebsgeschichte erreicht.[4]

Während des Ersten Weltkriegs lag die Werft offenbar still, und es gibt aus dieser Zeit keine Baunummer-Angaben. Erst 1920 wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Im Jahre 1922 begann man mit dem Bau von Schiffen für die Kolonie Belgisch-Kongo: sie wurden in Teilstücken gebaut, zusammengenietet, wieder zerlegt, in Holzkisten verpackt von Antwerpen nach Matadi am Kongo verschifft und dort wieder zusammengenietet. Die Zahl der Beschäftigten stieg von etwa 200 im Jahre 1914 auf rund 300 im Jahre 1924. Im Juni 1926 besuchten König Albert I. und Königin Elisabeth die Werft anlässlich der Indienststellung des Hospitalschiffs Belgique (Baunummer 501). Der Betrieb florierte und beschäftigte 1930 bereits etwa 680 Personen. 1931 wurden 68 Schiffe gebaut, verglichen mit 19 im Jahre 1906 und 32 im Jahre 1911. Von 1904 bis 1943 wurden insgesamt mehr als 950 Schiffe bei der Werft in Auftrag gegeben.

César zog sich 1933 in den Ruhestand zurück, und Frans, der im gleichen Jahr zum Bürgermeister von Temse gewählt wurde,[5] machte aus der bisher familieneigenen Firma die Aktiengesellschaft Scheepsbouwwerven Jos. Boel & Zonen N.V., die nun auch Küstenmotorschiffe herstellte. 1935 wurde eine besondere Slipanlage erstellt, wo kleinere Schiffe überholt werden konnten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb aufrechterhalten, nun allerdings unter Aufsicht und im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht. So wurden u. a. eine Anzahl kleinerer Frachtschiffe zu Sperrbrechern umgebaut.[6] Die Kollaboration war erzwungen, und es gab subtile Sabotageaktionen, die die Arbeit verzögerten. Frans Boels Sohn Jozef, der nach seines Vaters Tod 1943 die Betriebsleitung übernahm, arbeitete jedoch aktiv mit den Besatzern zusammen, wurde nach Kriegsende dafür zur Rechenschaft gezogen und als Kollaborateur interniert.

Blütezeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg blühte die Werft, unter Georges van Damme (1907–1986), Ingenieur und Frans Boels Schwiegersohn, kräftig auf, vor allem auch mit internationalen Aufträgen (darunter 27 aus der Sowjetunion, die in den 1950er Jahren im Krieg verlorene Schiffe ersetzen wollte). Die Belegschaft zählte 1956 bereits 2100 Personen. 1958 wurde ein Transversal- oder Parallel-Slipway eingeweiht, auf dem Schiffe von bis zu 20.000 BRT gebaut und seitwärts zu Wasser gelassen werden konnten; die Schelde war nicht breit genug, um Schiffe dieser Größe mit dem Heck zuerst vom Stapel zu lassen. Ab 1959 wurden auch Abwrackarbeiten ausgeführt. In den 1960er Jahren wurden die Werftanlagen erheblich erweitert, u. a. mit weiteren Werkstätten und einem Trockendock, damit wesentlich größere Schiffe von zuletzt bis zu 90.000 BRT gebaut werden konnten. Diese Zeit war durch Diversifikation geprägt: gebaut wurden nun eine Vielzahl verschiedener Schiffstypen – Öl-, Flüssiggas-, Chemie- und Produkten-Tanker, Massengutfrachter, Kühlschiffe, Fähren, Fregatten (ab 1974) und andere Kriegsschiffe – sowie eine breite Palette anderer Konstruktionen wie Schleusentore, Schwimmdocks, Brückenteile, Tanks usw. 1963 musste die lichte Weite der von Gustave Eiffel gebauten und im November 1870 eingeweihten alten Schelde-Brücke unterhalb der Werft von 30 m auf 50 m vergrößert werden, da die gebauten Schiffe immer breiter wurden. Dazu wurde ein neues Hubbrückenteil, auf der Boelwerft hergestellt, mittig in die Brücke eingepasst.[7] Gegen Ende der 1960er wurden auch die ersten Gastarbeiter aus Marokko und der Türkei eingestellt, oft durch Subunternehmen, mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen. Ein neues Verwaltungsgebäude wurde 1969 bezogen und die NV Scheepswerven Jos. Boel & Zonen zu NV Boelwerf umbenannt.

Der Abschluss des Vorvertrags zum Bau des 82.000-BRT-LNG-Tankers Methania 1973 führte zum sofortigen Bau eines modernen Trockendocks, 55 m breit und 560 m lang, das damals längste der Welt. Damit wurde es möglich, Schiffe von bis zu 180.000 BRT oder zwei Schiffe gleichzeitig darin zu bauen und auszurüsten. Das Areal der Werft wurde dabei von 40 auf 85 Hektar erweitert. Hinter der 280 m langen Methania wurde das Containerschiff Ortelius (2458 TEU) im gleichen Dock gebaut. Die Methania, der damals weltweit größte LNG-Tanker, wurde 1977 zu Wasser gelassen und im Oktober 1978 an die Schwesterfirma „Exmar“ ausgeliefert.[8] Die Belegschaft wuchs an auf 2.600 im Jahre 1974.

Niedergang

Die Jahre von 1979 bis Mitte der 1980er waren aber auch durch zunehmend militanten Aktionismus der auf der Werft vertretenen Gewerkschaften ACV und ABVV[9] gekennzeichnet, wobei es vor allem um den Erhalt von Arbeitsplätzen ging. 1979 waren rund 3000 Leute bei der Boelwerf beschäftigt, dem größten Arbeitgeber der Region. Der Wettbewerbsdruck aus Ostasien machte sich jedoch bemerkbar, der Betrieb stagnierte, die Zahl der Aufträge wurde geringer und ein Ende zeichnete sich ab. Im Dezember 1980 wurde das Unternehmen in mehrere Nachfolge-Gesellschaften geteilt; die wichtigsten waren die „Almabo“ Holding and deren profitable Reederei-Tochter „Exmar“, für LPG- und LNG-Tanker, einerseits und die zunehmend unter Druck stehende Boelwerf andererseits. Philippe Saverys (1930–2002), Georges van Dammes Schwiegersohn, wurde nach dessen Rücktritt 1981 Board Chairman der Werft. Im selben Jahr wurde „Exmars“ erster LPG-Tanker ausgeliefert, die Coral Temse mit 7.300 m³ Fassungsvermögen;[10] es folgten sehr schnell eine Anzahl wesentlich größerer LPG-Tanker.

Die Werftenkrise der 1970er und 1980er Jahre erfasste auch Belgien. Als die große Cockerill-Werft in Hoboken, auf dem gegenüber liegenden Ufer der Schelde, 1982 in Konkurs ging, wurde sie auf massiven Druck der belgischen Regierung von der Boelwerf übernommen, die nun zwei große Werftanlagen zu betreiben hatte und, mit der Regierung als neuem Anteilseigner, gleichzeitig ihren bisher rein privaten Charakter verlor. Eine umfassende Restrukturierung wurde unumgänglich. Arbeitskampfaktionen der Arbeitnehmer nahmen zu, Gewerkschaftsführer wurden entlassen, und die Belegschaft wurde um 40 % verringert, auf nur noch 1800 im Herbst 1986. Dennoch blieben die finanziellen Schwierigkeiten. Im Januar und Juni 1987 entging die Gesellschaft zweimal knapp dem Bankrott. Als avisierte staatliche Gelder 1987 ausblieben, trat Philippe Saverys als Chairman der Werft zurück. Er und seine Familie konzentrierten sich in der Folge auf den Reedereibetrieb der „Exmar“. Boelwerf baute weiterhin Schiffe für „Exmar“.

Die Bohrinsel Yatzy
Die ROPAX-Fähre Isle of Innisfree, ex Prins Filip (2023)

Neuer Chef bei Boelwerf wurde Luc Luyten. Allen Bemühungen zum Trotz verschlechterte sich die Wettbewerbsfähigkeit weiter. Neues Kapital konnte nicht mobilisiert werden, und große, renommierte High-Tech-Projekte wie die 1989 gebaute Halbtaucher-Bohrinsel Yatzy und die 1992 ausgelieferte Hochseefähre Prins Filip waren kosten-intensiv und verlustbringend.

Ende

Die Boelwerf konnte nur noch mithilfe erheblich zinsgünstiger Darlehen der Regierung an potentielle Kunden der Werft über Wasser gehalten werden. Im Januar 1992 wurden noch einmal drei Schiffe geordert, zwei Kühlschiffe und ein LPG-Tanker – die Kemira Gas, die die letzte Baunummer der Werft erhielt: 1546. Mögliche weitere Aufträge scheiterten an mangelnder Finanzierung. Am 28. Oktober 1992 musste Boelwerf Zahlungsunfähigkeit erklären. Nach mehreren erbitterten Streiks, einer Betriebsbesetzung durch Gewerkschaftsmitglieder und schwierigen Verhandlungen wurde der Betrieb am 4. April 1993 mit der flämischen Staats-Holding GIMV[11] und der niederländischen Royal Begemann Group[12] als Anteilseignern unter dem Namen Boelwerf Vlaanderen noch einmal aufgenommen, um die letzten sieben unvollendeten Bauaufträge auszuführen. 1300 Arbeiter kehrten zurück. Fünf der verbliebenen Schiffe wurden noch fertiggestellt. Danach wurde am 30. November 1994 endgültig Insolvenz erklärt. Nur noch 1100 Beschäftigte waren übrig geblieben. Das Insolvenzverfahren war langwierig und einige Mitglieder des Boelwerf-Verwaltungsrats wurden noch 2004 wegen Missbrauchs europäischer Fördergelder verurteilt.

Die beiden unfertigen, aber noch in der Werft liegenden Schiffe, die Kemira Gas und der Kabelleger Navigator, (Baunummer 1540) wurden schließlich vom Insolvenzverwalter unvollendet und mit Verlust an ihre Auftraggeber verkauft.[13] Am 19. Dezember 1996 erfolgte der letzte Stapellauf in Temse, als die Navigato zu Wasser gelassen und abgeschleppt wurde.[14] Das war das Ende des Hochseeschiffbaus in Belgien.

Stadtumbau

Der Boelwerfkraan, letztes Überbleibsel der Werft

Das ehemalige Werftgelände westlich des Stadtzentrums, knapp 87 Hektar groß, wurde ab 1998 vollständig umgewidmet und neu bebaut. Dort befinden sich heute eine Vielzahl von kleinen und mittleren Gewerbebetrieben sowie, auf etwa 30 ha, rund 200 Einfamilienhäuser und etwa 750 Apartmentwohnungen. Seit 2010 ist die Gemeindeverwaltung von Temse dort am Frans Boelplein im völlig renovierten Verwaltungsgebäude von 1969 konzentriert, dem „Administratief Centrum De Zaat“.[15]

Nur der Boelwerfkraan, ein Turmdrehkran, wurde als Erinnerungsstück erhalten. Er steht am Orlaylaan 22 am Ufer der Schelde (51° 7′ 21″ N, 4° 12′ 36″ O).

Fußnoten

  1. Gewestelijke Investeringsmaatschappij voor Vlaandere, gegründet 1980 als regionale Investitionsgesellschaft für Flandern.
  2. Von 1829 bis 1890 wurden insgesamt 74 hölzerne Schiffe gebaut.
  3. Graaf de Smet de Naeyer, bei binnenvaart.eu
  4. Das Schiff war nach dem 1905 gebauten und bereits auf seiner zweiten Fahrt 1906 gesunkenen belgischen Segelschulschiff gleichen Namens benannt.
  5. Er blieb dies bis zu seinem Tod 1943.
  6. Z. B. Sperrbrecher 155 (ex-Tanger), Sperrbrecher 185 (ex-Hansburg), Sperrbrecher 186 (ex-Delia), Sperrbrecher 187 (ex-Almeria).
  7. Eine neue Brücke wurde 2007–2009 parallel zur alten erbaut.
  8. https://www.ship-db.de/Meyer/M/Methania_7357452.pdf
  9. Algemeen Christelijk Vakverbond und Algemeen Belgisch Vakverbond.
  10. 6762 BRT, IMO Nummer 7909346.
  11. Gewestelijke Investeringsmaatschappij voor Vlaanderen.
  12. Koninklijke Begemann Groep.
  13. Boelwerfschepen toch nog verkocht, Nieuwsblad Transport, 23. September 1995.
  14. Maritime Reporter/Engineering News, Maritime Reporter Magazine, November 1996, S. 46.
  15. Der Name „De Zaat“ bezieht sich auf das ehemalige Werftgelände, das ortsüblich weiterhin De Zaat genannt wird.
Commons: Boelwerf – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Literatur

  • Jos. Boel & Zonen: Jos. Boel & Zonen. Chantiers Navals, Tamise (Belgique)/Scheepsbouwwerven, Temsche (Belgie), Ernst Thill, Bruxelles, 1932
  • Lieven Muësen, Eddy van Grevelinge: Made in Belgium by Boelwerf, Op Stoapel, Temse, 2019, ISBN 978-9-4639-6558-3
  • Lieven Muësen: Historiek Boelwerf, in: Gemeentemuseum van Temse, Jahrbuch 2013, S. 95–112
  • Willy Straetmans, Guido van Lijsebetten: 150 Jaar Boelwerf, 1829-1979, De Wase Ruilclub, Sint-Niklaas, 1979

Koordinaten: 51° 7′ 8″ N, 4° 12′ 7″ W