Biermann (Unternehmerfamilie)
Die Familie Biermann war eine jüdische Unternehmerfamilie, die von 1878 bis zur „Arisierung“ 1938 das Textilkaufhaus Max Biermann in Gera betrieb. Die Biermanns waren in der Kunst- und Kulturszene der Stadt vernetzt und traten als Mäzene hervor. Aenne Biermann, eine Schwiegertochter des Firmengründers, war eine renommierte Fotografin.
Geschichte
Anfänge im Deutschen Kaiserreich
Max Biermann (1856–1922) gründete 1878 ein Baumwollwaren- und Wäschegeschäft an der Ecke von Sorge und Johannisstraße in Gera. 1891 zog das Geschäft in ein eigenes Geschäftsgebäude um, das an der Stelle des abgebrochenen ehemaligen Fürstlichen Palais neu errichtet worden war. Nach Abriss des benachbarten ehemaligen „Kollegienhofes“ entstand 1907 an selber Stelle ein größeres Geschäftshaus, das mit einer Nutzfläche von 6500 m² das größte Textilkaufhaus Thüringens war.[1] Architekt des Gebäudes war Carl Zaenker, der auch das erhaltene ehemalige Warenhaus Hermann Tietz auf der Sorge sowie viele Geraer Villen geschaffen hatte.[2]
Max Biermann war Mitbegründer der Jüdischen Gemeinde Gera, die 1885 ins Leben gerufen wurde, und zeitweise ihr Vorsteher.[3]
In der Weimarer Republik

1919 erwarb die Familie eine neoklassizistische Villa in der heutigen Leibnizstraße 1 in Untermhaus, die vor 1893 für den Fabrikanten Arno Luboldt erbaut worden war. Nach dem Tod Max Biermanns im Jahr 1922 wurde das Kaufhaus von seinen Söhnen Erich und Herbert Biermann sowie Siegfried Schießer[4] weitergeführt. Beide Brüder lebten mit ihren Familien in der gemeinsamen Villa in Untermhaus, Erich im Obergeschoss, Herbert im Erdgeschoss.[5]
Die künstlerisch und literarisch interessierte Familie Biermann war Teil eines lokalen Netzwerkes, dem unter anderem der Architekt Thilo Schoder, der Maler Kurt Günther, der Arzt und Schriftsteller Kurt Gröbe und der Geologe Rudolf Hundt angehörten.[6] Herbert Biermanns Ehefrau Aenne Biermann fand Ende der 1920er Jahre auf Anregung Hundts zur Fotografie und avancierte – auch unter Förderung des mit der Familie befreundeten Franz Roh – innerhalb weniger Jahre zu einer anerkannten Fotokünstlerin der Neuen Sachlichkeit. Sie starb im Januar 1933 im Alter von 34 Jahren.
Auch Franz Werfel soll in der Villa Biermann zu Besuch gewesen sein, wie unter anderem der Pädagoge Wilhelm Flitner, der ebenfalls zum engen Freundeskreis der Familie zählte, in seiner Ausgabe der Gedichte Herbert Biermanns berichtete.[7] Ein genauerer Nachweis dazu fehlt, ebenso wie zu in der Literatur genannten Kontakten zu Carl Zuckmayer und Theodor Litt. Nachgewiesen sind zumindest Begegnungen mit Hans Carossa und Georg Schrimpf, die von Aenne Biermann fotografiert wurden.[8]
Aus Anlass des 50-jährigen Geschäftsjubiläums stiftete die Familie Biermann 1928/29 einen von Thilo Schoder gestalteten Brunnen für den kurz zuvor angelegten Dahliengarten, der in jenen Jahren zeitweise auch als Max-Biermann-Garten bezeichnet wurde.[9]
Zeit des Nationalsozialismus und Emigration
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten war das Kaufhaus Biermann von den Judenboykotten des Jahren 1933 betroffen.
1935 besuchte Herbert Biermann das Mandatsgebiet Palästina, um Möglichkeiten zur Auswanderung zu erkunden. Am 4. Mai 1935 berichtete er in einem Vortrag vor der Jüdischen Gemeinde Gera über seine Reise.[10] Herbert und Aenne Biermanns 15-jährige Tochter Helga Biermann wanderte 1935/36 mit ihrem gleichaltrigen Cousin Günter Sternefeld, Sohn von Aenne Biermanns Bruder Wolfgang Sternefeld, mit der Kinder- und Jugend-Alija von Berlin nach Palästina aus.[11]
Ende 1935 verpachteten die Eigentümer das Kaufhaus an den „Arier“ Fritz Jahnke aus Königsberg. Am 30. April 1938 wurde das Kaufhaus Biermann an die Firma Braun & Co. verkauft, wobei der Familie Biermann nur ein Bruchteil des Verkaufserlöses ausgezahlt wurde, während der Rest auf ein Sperrkonto ging.[12]
Am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, wurden Erich und Herbert Biermann vom Untermhäuser Ortsgruppenführer der SA verhaftet und als „Aktionsjuden“ für drei Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert. Ihre Haftentlassung deckt sich mit der am 28. November 1938 angeordneten Freilassung von „Frontkämpfern“.[13] Auch Herberts 15-jähriger Sohn Gerd wurde am 10. November 1938 verhaftet, wegen seines jungen Alters jedoch umgehend wieder entlassen und nicht ins KZ verbracht.[14] Nach der Haftentlassung waren die Brüder Biermann gezwungen, ihren gesamten Besitz zu verkaufen.[15]
Erich Biermann wanderte im Sommer 1939 mit seiner Frau Edith, die aus der Düsseldorfer Warenhausbesitzerfamilie Hartoch stammte, und den beiden Kindern in die USA aus, wo er 1949 starb.[16]
Hildegard „Hilde“ Sternefeld (geb. Noelle), die seit 1926 von Aenne Biermanns Bruder Wolfgang Sternefeld geschieden war, lebte mindestens seit dieser Zeit mit in der Villa Biermann in Gera. Nach dem Tod Aenne Biermanns galt sie als Ersatzmutter der Kinder.[17] Herbert Biermann und Hilde Sternefeld wollten 1939 heiraten und strebten die gemeinsame Emigration an, was ihnen aber – trotz eines umfangreichen Schriftverkehrs mit den Behörden – letztlich verwehrt blieb, da Sternefeld zwar 1919 zum Judentum konvertiert war, sich auch gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern zum Judentum bekannte und den Zwangsvornamen „Sara“ annahm, aber nach nationalsozialistischer Auffassung als „Arierin“ galt.[18] Sie starb am 10. Oktober 1942 im Alter von 45 Jahren in den Heilanstalten in Gera-Milbitz.[19]
Herbert Biermann emigrierte am 26. September 1939, bereits nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, von Gera aus über Triest und Haifa nach Palästina. Sein in zwei Lifts verschickter persönlicher Besitz, darunter das umfangreiche Fotoarchiv Aenne Biermanns, wurde in Triest zurückgehalten, was dem üblichen Vorgehen der Nationalsozialisten entsprach, und dort schließlich am 11. Mai 1944 konfisziert.[20]
1939 war auch Herbert und Aenne Biermanns 16-jähriger Sohn Gerd, der sich nun Gerson nannte, mit der Jugend-Alija ausgewandert, so dass die Familie mit Vater, zwei Kindern und dem Neffen Günter Sternefeld nun wieder zusammentraf.[21] Herbert Biermann war für einige Jahre als Landwirt in der Siedlung Beit Yitzhak tätig, was nicht seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprach. Er heiratete 1944 erneut und betrieb dann mit seiner Frau ein kleines Hotel in Haifa.
Erich und Herbert Biermanns Schwester Lilli (oder Lilly) Biermann wurde 1938 von ihrem Ehemann Rudolf Paul geschieden. Sie zog nach Berlin, wo sie erneut heiratete und 1942 deportiert wurde. Zunächst im Ghetto Riga interniert, starb sie am Neujahrstag 1945 in Sophienwalde, einem Außenlager des KZ Stutthof.[22]
Herbert Biermann kehrte nie wieder nach Deutschland zurück.[23] Kurz vor seinem Tod 1962 veröffentlichte er einen Gedichtband Lauschen will ich jenseits des Verzagens, der von Wilhelm Flitner herausgegeben und mit einem Vorwort versehen wurde.[24]
Stammliste
- Max Biermann (11. Juli 1856–2. Mai 1922) ⚭ Mathilde Stern (8. Juli 1854–20. Mai 1919)
- Erich Biermann (13. Juli 1887–10. Oktober 1949) ⚭ Edith Hartoch (29. März 1896 Düsseldorf–10. Januar 1984 Lugano)
- Anneliese Biermann (1921–2013)
- Herbert Biermann (1924–?)
- Herbert Joseph Biermann (6. Juli 1890 Gera–4. September 1962 Haifa) ⚭ (1) Anna Sibylla „Aenne“ Sternefeld (3. März 1898 Goch–14. Januar 1933 Gera); (2) Clara Elsberg (19. Mai 1887–8. Juli 1978)
- Helga Mathilda Biermann (11. November 1920–22. März 1987)
- Nachkommen im Vereinigten Königreich
- Gerd Wolfgang (Gerson) Biermann (14. Juni 1923–2017)
- Nachkommen in Israel
- Helga Mathilda Biermann (11. November 1920–22. März 1987)
- Elfriede Biermann
- Lilli Biermann (14. Dezember 1895–1. Januar 1945 KZ-Außenlager Sophienwalde) ⚭ (1) Rudolf Paul (30. Juli 1893 Gera–28. Februar 1978 Frankfurt am Main) ⚭ (2) N. N. Moses
- Erich Biermann (13. Juli 1887–10. Oktober 1949) ⚭ Edith Hartoch (29. März 1896 Düsseldorf–10. Januar 1984 Lugano)
Nachleben in Gera

Das ehemalige Kaufhaus Biermann wurde beim Luftangriff am 6. April 1945 zerstört. In der DDR wurde nach und nach der gesamte Häuserblock zwischen Johannisplatz, Johannisstraße und Bachgasse abgebrochen und eine Grünanlage geschaffen. Nach dem Ende der DDR wurde dort ein „Biermann-Center“ geplant, das nach einem Investorenwechsel als (2003 eröffnete) Einkaufspassage „Elster-Forum“ verwirklicht wurde. Nach dem Auszug des Hauptmieters Galeria Kaufhof im Jahr 2018 wurde die Passage in das Geschäftszentrum „Otto-Dix-Passage“ umgewandelt.
Die einstige Villa Biermann in der Leibnizstraße stand, nachdem sie zuletzt als Kindergarten genutzt worden war, seit den 1990er Jahren leer und verfiel. Nach jahrelangen Debatten um Abriss oder Instandsetzung wurde die Villa, die nicht unter Denkmalschutz stand, 2020 abgebrochen.[25]
Ein großer, parkartiger Platz in Untermhaus, der ursprünglich Prinzenplatz geheißen hatte, wurde am 30. Juli 1946 zunächst in Lilly-Paul-Platz umbenannt, am 12. Juni 1949 – um die gesamte Familie Biermann zu ehren – in Biermannplatz. Ab 13. Dezember 1958 hieß er Platz der Thälmann-Pioniere, seit dem 1. März 1991 wieder Biermannplatz.[26]
Am Standort des ehemaligen Kaufhauses auf dem Johannisplatz erinnern seit dem 7. Juni 2010 fünf Stolpersteine an Erich, Herbert, Edith und Lilli Biermann sowie Hilde Sternefeld. Nachdem die Steine bereits in der Nacht zum 27. Juni 2010 gestohlen worden waren, wurden sie neu angefertigt und am 6. Februar 2011 erneut verlegt.[27][28]
- Stolpersteine für die Familie Biermann in Gera
-
Erich Biermann -
Edith Biermann -
Herbert Biermann -
Lilli Moses -
Hilde Sternefeld
Das Familiengrab auf dem Geraer Ostfriedhof, in dem Max, Mathilde und Aenne Biermann sowie Aennes Mutter Julie Sternefeld ihre letzte Ruhe fanden, ist erhalten.
An Aenne Biermann wurde und wird in Gera in vielfältiger Form erinnert, unter anderem durch die seit 2009 nach ihr benannte Volkshochschule sowie den erstmals 1992 verliehenen Aenne-Biermann-Preis.
2021 erhielt der Geraer Förderverein „Freundes des Ferberschen Hauses“ als Schenkung einen sechsseitigen handschriftlichen Brief, den Herbert Biermann im Juni 1947 aus Haifa an den eng befreundeten Pädagogen Martin Engels geschrieben hatte. Der Brief, in dem Biermann über seine Lebensumstände in Palästina berichtet und auch Eindrücke seiner Haft in Buchenwald schildert, wurde 2023 in einer kommentierten Edition veröffentlicht.
Literatur
- Ein Brief aus Haifa. Herbert Biermann schreibt aus der Diaspora im Jahr 1947 an seinen Geraer Freund Martin Engels. Hrsg. vom Förderverein „Freunde des Ferberschen Hauses“ e. V., Gera 2023.
- Werner Simsohn: Juden in Gera I. Ein geschichtlicher Überblick. Hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 1997.
- Werner Simsohn: Juden in Gera II. Jüdische Familiengeschichten. Hg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 1998.
- Werner Simsohn: Juden in Gera III. Judenfeindschaft in der Zeitung. Leben, Leiden im NS-Staat, Folgen 1933–1945. Hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2000.
Einzelnachweise
- ↑ Simsohn: Juden in Gera II, S. 26.
- ↑ Anja Löffler (Bearb.): Stadt Gera (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale in Thüringen, Bd. 3). Erfurt 2007, S. 109.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 36.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 38f.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 61.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 55–57.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 29.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 42.
- ↑ Anja Löffler (Bearb.): Stadt Gera (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale in Thüringen, Bd. 3). Erfurt 2007, S. 436.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 36.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 37.
- ↑ Simsohn: Juden in Gera II, S. 27.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 36.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 37.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 36.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 38.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 38.
- ↑ Simsohn: Juden in Gera II, S. 228–233.
- ↑ Simsohn: Juden in Gera II, S. 189f.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 37.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 37.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 38.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 33.
- ↑ Ein Brief aus Haifa, S. 40f.
- ↑ Sylvia Eigenrauch: Biermann-Villa in Gera wird abgerissen. Ostthüringer Zeitung, 24. September 2020, abgerufen am 25. August 2025.
- ↑ Siegfried Mues: Die Straßennamen der Stadt Gera von A bis Z. Ihre Geschichte und Geschichten. Gera 2006, S. 59f.
- ↑ Biermann, Familie. Stolpersteine Gera, abgerufen am 25. August 2025.
- ↑ Kaufhaus Biermann. Stolpersteine Guide, abgerufen am 25. August 2025.