Belgische Zwangssoldaten
Als Belgische Zwangssoldaten werden die volksdeutschen Männer aus Ostbelgien bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Wehrmacht oder Waffen-SS Dienst leisten mussten. Während der belgischen Nachkriegssäuberungen (Épuration) standen die Überlebenden zunächst unter allgemeinem Kollaborationsverdacht. Im Jahr 1974 erhielten alle Rekrutierten und Refraktäre dann pauschal den Opferstatus im Statut de l’incorporé de force dans l’armée allemande.
Annexion und Wehrpflicht
Das ehemals preußische Eupen-Malmedy war im Friedensvertrag von Versailles vom Deutschen Reich an Belgien abgetreten worden und bildete die deutschsprachige Region Ostbelgien mit einem hohen Anteil Volksdeutscher. Als Deutschland die belgische Neutralität im Westfeldzug in der Schlacht um Belgien am 10. Mai 1940 erneut gebrochen hatte, wurden die Wehrmachtstruppen von der Bevölkerungsmehrheit dieses Grenzlandes, propagandistisch unterstützt durch die Heimattreue Front und andere prodeutsche Verbände, als Befreier und nicht als Okkupanten angesehen. Inwieweit die Zustimmung zu Heim ins Reich auch eine Zustimmung zum Nationalsozialismus darstellte ist unklar.[1] Per Führererlass vom 18. Mai sollte Eupen-Malmedy mit dem Deutschen Reich „wiedervereinigt“ werden und galt ab dem 23. Mai zusammen mit zehn annektierten altbelgischen Gemeinden als vollwertiges Reichsgebiet im Gau Köln-Aachen. Von der Wehrmacht wurden im Juni 1940 zunächst Freiwilligen-Meldestellen eingerichtet und die Erfassung der zukünftig wehrpflichtigen Bevölkerung vorbereitet. Die Staatsbürgerschaftsfrage blieb aber bis zum 23. September 1941 offen.[2] Die Annexion selbst war völkerrechtswidrig, da es keine friedensvertragliche Regelung gab. Die belgische Exilregierung protestierte erst gegen Kriegsende dagegen.[3]
Mit Verordnung des Reichsinnenministeriums vom 23. September wurde die Staatsbürgerschaft geregelt. Mit wenigen Ausnahmen (u. a. Juden, Zigeuner, während der belgischen Zugehörigkeit zugezogene Altbelgier) erhielten die Bewohner der ehemaligen preußischen Kreise die volle deutsche Staatsbürgerschaft (§ 1-Deutsche). Die „Staatsbürgerschaft auf Widerruf“ (§ 2-Deutsche) erhielten „deutschstämmige“ Zuwanderer und „deutschstämmige“ Einwohner der zusätzlich annektierten altbelgischen Gemeinden. Wobei die belgische Staatszugehörigkeit nicht entzogen wurde und wenig beachtet doppelte Staatsbürgerschaften entstanden.[4] Ab November 1941 begannen die Erfassung und Musterung der § 1-Deutschen, die nunmehr wie Reichsdeutsche eingezogen wurden. Eine öffentliche Bekanntmachung unterblieb, um Unruhe zu vermeiden.[5] Die Rekrutierung der § 2-Deutschen (auf Widerruf) begann später, weil OKW und Innenministerium Probleme mit diesen unbewährten Deutschen vermeiden wollten. Dienstpflichtige § 2-Deutsche, bei denen Widerstand befürchtet wurde, sollten der Organisation Todt, den NSKK-Transportkompanien oder der Transportstandarte Speer zugeteilt werden, um an der Front nicht auf unzuverlässige Personen angewiesen zu sein.[6]
Die Zwangssoldaten aus den heimgekehrten preußischen Kreisen (§ 1-Deutsche) verhielten sich eher konformistisch und wiesen weder bei der Verteilung auf Truppengattungen noch bei der Anzahl der gefallenen oder vermissten Soldaten signifikante Unterschiede zu den „reichsdeutschen Kameraden“ auf. Bei den Deutschen auf Widerruf (§ 2-Deutsche) aus den altbelgischen Gemeinden stießen die Erfassungs-, Musterungs- und Einberufungsmaßnahmen hingegen teilweise auf Widerstand, indem Termine nicht wahrgenommen, Unterschriften verweigert wurden oder die Rekruten sich durch Flucht aus dem vergrößerten Reichsgebiet entzogen.[7]
Von Ende 1941 bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im September 1944 wurden 8.700 Männer zur Wehrmacht und zur Waffen-SS rekrutiert. Zwischen 3.200 bis 3.400 gelten als gefallen, vermisst oder in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gestorben.[8] Aus den Kreisen Eupen und Malmedy sollen sich 430 dem Dienst entzogen haben. Aus den zehn altbelgischen Gemeinden sollen sich laut zweifelhaften Resistance-Angaben bis zu 675 Männer entzogen haben (Deutsche Einzelberichte weisen ebenfalls hohe Prozentsätze an Flüchtigen für die altbelgischen Gemeinden aus, lassen aber auf geringere Zahlen schließen). Die Zwangssoldaten wurden − wie auch reichsdeutsche Soldaten − überwiegend an der Ostfront eingesetzt. Die Teilnahme an Massenerschießungen im dortigen Vernichtungskrieg ist belegt, das Ausmaß der Teilnahme an Kriegsverbrechen ist ungeklärt geblieben.[9]
Nachkriegszeit
Die einigen hundert kriegsgefangenen Zwangsrekrutierten in den westlichen Ländern wurden im Sommer 1945 entlassen, während der Großteil der Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern teilweise noch jahrelang festgehalten wurde. Die belgische Regierung bemühte sich um deren Freilassung und in Belgien kamen viele Rückkehrer zunächst ins Gefängnis von Verviers. Für 851 Rückkehrer waren belgische Kriegsgerichtsverfahren vorgesehen.[10] Der Begriff „Zwangssoldat“ wurde von Brüsseler Behörden erstmals 1945 zur Betonung des Zwangscharakters und zur Unterscheidung von flämischen und wallonischen Freiwilligen in Wehrmacht und Waffen-SS verwendet.[11] In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden die Zwangssoldaten als Kollaborateure gebrandmarkt und erst in den 1970er Jahren rehabilitiert, um dann von der flämisch-wallonischen Mehrheitsgesellschaft vergessen und in der ostbelgischen Geschichte als Tabuthema der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens verschwiegen zu werden.[12]
Deutschland stellte 1963 eine finanzielle Entschädigung für die Zwangsrekrutierung in Belgien bereit. Im Jahr 1974 gewährte Belgien den Opferstatus für Zwangssoldaten als auch für Verweigerer („Refraktäre“) im Statut de l’incorporé de force dans l’armée allemande und nach langwierigen einleitenden bürokratischen Maßnahmen wurden erstmals 1989 unbedeutende Renten ausbezahlt.[13][11]
1960 gründeten die westeuropäischen Zwangsrekrutierten aus dem Elsass, Lothringen, Luxemburg und Belgien die „Internationale Föderation der Zwangseingezogenen, Opfer des Nazismus“ mit Sitz in Luxemburg und veröffentlichten 1965 das Memorandum „La Grande Honte“ (Die große Schande), um Druck für eine Entschädigung aus Deutschland aufzubauen. 1972 erkannte das Auswärtige Amt die Zwangseingliederung in die Wehrmacht als elementaren Menschenrechtsverstoß an, hielt aber Entschädigungszahlungen erst nach Abschluss eines Friedensvertrages für möglich. In den 1980er Jahren zahlte die deutsche Bundesregierung 250 Millionen Mark als symbolische Entschädigung in einen Fonds, d. h. etwas mehr als 3000 DM pro Person an die noch lebenden etwa 80.000 Betroffenen.[14]
Der Historiker Peter M. Quadflieg ging auf die Fragwürdigkeit der vereinfachenden populärwissenschaftlichen Darstellungen zu den Zwangssoldaten mit seiner quellenbasierten empirischen Arbeit „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“ ein und erhielt dafür 2007 den Wilhelm-Deist-Preis für Militärgeschichte.
Literatur
- Christoph Brüll: Les « ENRÔLÉS DE FORCE » Dans la Wehrmacht - un symbole du passé mouvementé des belges Germanophones au XX e siécle. In: Guerres mondiales et conflits contemporains. Nr. 241. Presses Universitaires de France, Januar 2011, S. 63–74, JSTOR:41300008.
- Norbert Haase: Von « Ons Jongen », « Malgré – nous » und anderen – Das Schicksal der ausländischen Zwangsrekrutierten im Zweiten Weltkrieg, PDF, Vortrag an der Universität Strassburg, 27. August 2011
- Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. Eupen-Malmedy und Luxemburg als Rekrutierungsgebiet der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Aachen 2008, ISBN 978-3-8322-7078-0.
Weblinks
- Zwangssoldaten (Ostkantone) auf Belgien im Krieg
- Deutschsprachige Belgier kämpften als Zwangssoldaten im Zweiten Weltkrieg auf CompGen
Einzelnachweise
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 40.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 58, 68 und 61 f.
- ↑ Zweiter Weltkrieg. Zentrum für ostbelgische Geschichte, abgerufen am 26. August 2025.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 61 f.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 73 f.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 75 f.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 157.
- ↑ Christoph Brüll: Les « ENRÔLÉS DE FORCE » Dans la Wehrmacht. S. 61.
- ↑ Christoph Brüll: Les « ENRÔLÉS DE FORCE » Dans la Wehrmacht. S. 71 f.
- ↑ Christoph Brüll: Les « ENRÔLÉS DE FORCE » Dans la Wehrmacht. S. 73.
- ↑ a b Christoph Brüll: Zwangssoldaten (Ostkantone). In: Belgien im Krieg. Abgerufen am 17. August 2025.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 7.
- ↑ Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. S. 11.
- ↑ Manfred Kittel: Deutschsprachige Minderheiten 1945: ein europäischer Vergleich, Oldenbourg Verlag, 2007, ISBN 3-486-58002-7, S. 451 ff.