Bei Regen in einem Teich schwimmen

Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. (Originaltitel: A Swim in a Pond in the Rain: In Which Four Russians Give a Master Class on Writing, Reading, and Life) ist ein literaturpädagogischer Essay von George Saunders. Darin untersucht Saunders sieben russische Erzählungen von Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Leo Tolstoi und Nikolai Gogol, die bis auf eine alle im 19. Jahrhundert veröffentlicht worden sind.^[1] Die Erzählungen werden jeweils in vollständiger Übersetzung abgedruckt und von Saunders mit dem Fokus auf dem erzählerischen Handwerk der Autoren analysiert und interpretiert. Saunders Buch ist Frucht der Arbeit mehrerer Jahre als Dozent für Kreatives Schreiben an der Syracuse University im Bundesstaat New York.

Die von Saunders ausgewählten sieben kleinen Werke im Umfang von sechs bis sechzig Seiten seien eine Literatur des stillen Widerstands, weil jedes für sich die Fragen zu beantworten suche, wie wir leben und was wir wertschätzen sollten: „Was darin passiert, bedeutet uns etwas. Sie wurden geschrieben, um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.“^[2] Literatur verändere den Lesenden: „Sie sorgt dafür, dass sich ein Geist zunehmend verändert. [...] Diese Veränderung ist begrenzt, aber real.“^[3]

Saunders praktiziert in seinem Umgang mit Texten eine dem close reading nahe Methode, die aus einem Text besonders berührende Passagen heraushebt, in die Konnotationen einzelner Sätze eindringt, den Stil der Beschreibungen und den Wechsel der Perspektiven markiert.^[4] Vom sozialen und weltanschaulichen Hintergrund der Autoren wird weitgehend abgesehen und nur bei Tolstoi stützt sich die Interpretation auf textfremdes Material.

Das handwerklich gute Erzählen orientiert sich für Saunders daran, dass jedes Element für sich genommen unterhaltsam sein und die Handlung auf eine nicht-triviale Weise voranbringen muss.^[5] Unsere Aufmerksamkeit müsse „von einer Zeile zur nächsten“ in die Geschichte hineingezogen werden,^[6] „in einer guten Erzählung produziert die Autorin Energie in einem Spielzug und überträgt diese Energie dann sauber auf den nächsten (die Energie wird ‚bewahrt‘)“.^[7] „Sie brauchen keine Idee, um eine Erzählung anzufangen, sie brauchen nur einen Satz“, aber alles in ihm habe sich am „Prinzip der gnadenlosen Effizienz“ zu orientieren:^[8] „Wir gehen davon aus, dass alles, bis hin zur Zeichensetzung, vom Autor so beabsichtigt ist.“^[9] Daher prüft Saunders in den Meistererzählungen immer wieder, welche Funktion einzelne Elemente im Fortgang der Geschichte haben und hebt Wiederholungen oder die Variation der Motive in den Wiederholungen hervor.^[10]

Die Variation von zentralen Motiven kennzeichne oft die Wendepunkte einer Erzählung, die den Handlungslauf strukturierten und in einer effektvollen Erzählung von der „Exposition“ über die „aufsteigende Handlung“ zum „Höhepunkt“, danach zur „abfallenden Handlung“ und zur „Auflösung“ übergehe. Saunders spricht mit Bezug zu diese Auf- und Ab-Bewegung vom „Freytag’schen Dreieck“.^[11]

Die schrittweise Differenzierung der Figuren durch zusätzliche äußere Merkmale, Verhaltensweisen und ihre Innenperspektiven erhöhen für Saunders die Komplexität und damit auch die Glaubwürdigkeit der Charaktere; sie entfernen die Figuren mit jedem weiteren Merkmal von einer Menschenschablone, bei der die Aufmerksamkeit der Leser leicht abbreche.^[12] Die Nebenfiguren hätten dabei die Funktion, durch ihre Spiegelungen die Zeichnung der Hauptfiguren zu vervollständigen.^[13]

Neben den sieben Meistererzählungen und neben ihren Textanalysen und Interpretationen finden Erstreaktionen seiner Studierenden auf die Erzählungen, verschiedene Analysemethoden, Übungen und narrative Befindlichkeiten des Autors ihren Platz. Saunders didaktischer Baukasten enthält neben einigen Schreib- und Streichübungen^[14] auch Beispiele für knappe Zusammenfassungen, die das organisierende Zentrum des Textes oder sein „Herzstück“ herausarbeiten,^[15] die Erfindung von alternativen Abläufen oder Charakterisierungen zur Sensibilisierung für die Intentionen der Originalautoren, den Vergleich von Übersetzungen^[16] sowie die Förderung der Übersicht durch bloße Ereignislisten.^[17]

Im SWR Kultur wird das Buch als „ausgesprochen unterhaltsam“ und „nie belehrend oder dünkelhaft“ bewertet, „ein Buch mit Mehrwert: große russische Literatur plus deren Interpretation von einem enthusiastischen Leser.“^[18]

In der FAZ schätzt Paul Ingendaay vor allem den großen Wert für das Lesenlernen: „Es gibt viele Bücher, die das Schreiben lehren. Aber wie lernen wir, besser zu lesen - genauer, tiefer, mit mehr Sinn für das Gesagte, Angedeutete und Mitgemeinte?“ Saunders habe eine „kurzweilige Schule des Lesens und Verstehens“ veröffentlicht, eine Befähigung zu Lichtblicken, „die uns das aufmerksame Lesen schenkt.“^[19]

• George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert, München: Luchterhand 2022, ISBN 978-3-630-87697-9

1. ↑ Nur Aljoscha der Topf von Leo Tolstoi wurde erst 1905 veröffentlicht.
2. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 13, 15.
3. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 507.
4. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 16 f., 183 f., 192, 280, 285 f., 295, 298, 305, 321 f.
5. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 59.
6. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 24.
7. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 295.
8. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 153, 57 f.; 39, 111 ff.
9. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 429.
10. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 48, 64, 74, 175 ff., 188 f., 193, 196, 296f.
11. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 180 f., 288 f., 305.
12. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 29, 56, 186 f.
13. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 126 ff.
14. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 82 ff., 136 ff., 156 ff.
15. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 112 ff., 121 f.
16. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 183 ff., 192 f.; 474 ff., 494.
17. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen, S. 178, 190 f.
18. ↑ George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen - Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen, auf swr.de
19. ↑ Paul Ingendaay: Jeder taucht in seiner eigenen Tiefe. In: faz.net. 25. Juli 2022, abgerufen am 24. Juni 2025.