Barbara von Sell
Barbara „Barra“ Freifrau von Sell, geb. Meller, (geboren am 12. Oktober 1934; gestorben am 7. Dezember 2002) war eine deutsche Frauenrechtlerin. Sie war 1975 die erste Frauenbeauftragte in einer deutschen Landesregierung.
Leben
Barbara von Sells Eltern waren die niederländische Tänzerin Petronella Colpa († 1935) und der ungarische Architekt Pali Meller (1902–1943). Ihr Vater stammte aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Ihre Mutter verunglückte 1935 tödlich bei einem Autounfall. Barbara von Sell und ihr vier Jahre älterer Buder Paul wuchsen beim Vater mit Kindermädchen in Berlin auf. Ihr Vater, dem als Jude in der NS-Zeit Verfolgung drohte, lebte unter falscher Identität.[1] Dennoch wurde er 1942 wegen Urkundenfälschung verhaftet und kam in das Zuchthaus Brandenburg-Görden. Von dort aus sendete er seinen Kindern Briefe, die später unter dem Namen „Papierküsse“ veröffentlicht wurden, bis er 1943 an Tuberkulose starb.[2] Barbara von Sell erklärte später, dass ihr die jüdische Herkunft des Vaters bis zu seinem Tod nicht bekannt gewesen sei.[3] Ihr erster Pass war ungarisch, da sie die Staatsangehörigkeit des Vaters besaß. Mit der Aberkennung von dessen Staatsangehörigkeit verloren auch die Kinder diese und wurden staatenlos. 1955 erhielt Barbara von Sell schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft.
Nach dem Tod des Vaters übernahm das Kindermädchen allein die Fürsorge für die Geschwister bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Krieg profitierte Barbara von Sell zunächst von einer bevorzugten Behandlung. Dann wurde ihr aber der Zugang zu einer weiterführenden Schule in der sowjetischen Besatzungszone verweigert, da sie weder Arbeiter- noch Bauernkind war. Bereits mit elf Jahren begann sie deshalb zu arbeiten, um sich und ihren an Tuberkulose erkrankten Bruder zu versorgen. Sie trat als Tänzerin und Akrobatin in amerikanischen und englischen Klubs auf und avancierte früh zum Kinderstar. Wie schon ihre Mutter schlug sie dann eine Laufbahn als Tänzerin und Schauspielerin ein. Unter Tatjana Gsovsky erhielt sie eine Ausbildung zur klassischen Tänzerin und besuchte parallel die Max-Reinhardt-Schule für Schauspiel, wo sie unter anderem bei Hilde Körber und Lucie Höflich lernte.[1]
Sie heiratete im Alter von 20 Jahren den späteren WDR-Intendanten Friedrich-Wilhelm von Sell. Das Paar hatte zwei Kinder: Die Schauspielerin und Hörspielregisseurin Julia von Sell und den Filmproduzenten Philipp von Sell (zuerst mit Esther Ofarim, später mit Philine von Sell verheiratet).
Nach ihrem Tod wurde sie auf dem Melaten-Friedhof beigesetzt.
Politisches und gesellschaftspolitisches Engagement
1966 trat Barbara von Sell in die SPD ein und kandidierte im selben Jahr noch erfolgreich für den Stadtrat in Bergisch Gladbach.
Mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1975 wurde von Sell von Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) zur Beauftragten für Frauenfragen ernannt. Kühn wollte damit ein vor der Landtagswahl gegebenes Versprechen einlösen, ein Staatssekretariat für Frauenfragen einzurichten. Gegen Widerstände in der eigenen Partei und beim FDP-Koalitionspartner verzichtete er zwar auf eine formale Staatssekretärin, stattete von Sell aber mit einem Beauftragten-Gehalt knapp unter Staatssekretärsniveau sowie acht Mitarbeiterstellen aus.[4] Ihre Schwerpunkte lagen auf der Förderung der Frauenforschung, der Unterstützung von Müttern beim Wiedereinstieg in den Beruf und dem Ausbau von Frauenhäusern. Von Sell erhielt jedoch keine eigenen Kompetenzen, kein Kabinettszugangsrecht und keine Befugnisse bei Gesetzen oder Verordnungen. Aus dem Grund bezeichnete sie ihre Rolle später als „Scheinamt“ und trat ein Jahr nach Amtsantritt bereits wieder zurück.[5]
Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre beteiligte sie sich in Köln an Informationsbörsen, die – angestoßen von Antje Hubers „Mitmachbörsen“ – unter dem bundesweiten Motto Mitmachen macht Mut – Frauen können mehr standen. Diese Veranstaltungen zielten darauf ab, mehr Frauen für politisches Engagement zu gewinnen, insbesondere solche, die sich von radikaleren Strömungen der Frauenbewegung eher distanzierten. Darüber hinaus war von Sell in zahlreichen Initiativen aktiv. In der Arbeiterwohlfahrt leitete sie Schularbeitskurse und gründete eine Elternschule. Sie engagierte sich in der Altenhilfe, war Vorsitzende des „Arbeitskreises Kölner Frauenvereinigungen“ und Mitglied im Landesvorstand der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen. Als Leiterin des „Arbeitskreises für das Ausländische Kind“ setzte sie sich für die Rechte von Kinder von Migranten ein. Für die Gustav Heinemann-Initiative war sie Mitverfasserin eines Memorandums, in dem unter anderem ein Diskriminierungsverbot für Ausländer bei der Wohnungssuche, Kritik an der Rückkehrprämie sowie das Wahlrecht und der Familiennachzug für Ausländer gefordert wurden.[6] Zudem war sie maßgeblich an der Gründung der psychiatrischen Tagesklinik Alteburger Straße in Köln beteiligt, wobei sie der damaligen Anti-Psychiatrie-Bewegung nahestand. Ab 1990 moderierte Barbara von Sell regelmäßig Gesprächsrunden im „Frauencenter George Sand“.[7][1][5]
Literarisches und künstlerisches Schaffen
Nach dem Umzug von Bergisch Gladbach nach Köln widmete sich Barbara von Sell auch der Schriftstellerei und veröffentlichte Gedichte, Kurzgeschichten und Liedtexte. 1984 organisierte sie eine Wahlkampf-Tournee für die SPD-Politikerin Katharina Focke. Dafür schrieb sie Liedtexte zu Themen wie Gleichberechtigung, Frauenförderung, Arbeitslosigkeit und Umweltschutz. Die Musikerin Monika Kampmann schrieb dafür die Musik und gemeinsam begleiteten sie den Wahlkampf mit Gisela Marx als Moderatorin. Kampmann, von Sell und Ingrid Ittel-Fernau gründeten gemeinsam den Musikverlag Schnecke.[8]
Darüber hinaus übersetzte sie für den Rowohlt Verlag unter ihrem Mädchennamen Barbara Meller Texte aus dem Niederländischen.[9] 1988 schrieb sie ein Musical-Libretto; 1990 folgte der Text Frauenmonologe, der sich unter anderem mit der NS-Vergangenheit von Freundinnen auseinandersetzte.[8]
Auszeichnungen und Nachwirken
1985 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Ihr zu Ehren wurde 2004 das Barbara-von-Sell-Berufskolleg in Köln-Niehl nach ihr benannt.[10]
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ a b c Barbara von Sell – Kölner Frauengeschichtsverein e.V. Kölner Frauengeschichtsverein e.V., 1. Oktober 2020, abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ Pali Meller: Papierküsse. Briefe eines jüdischen Vaters aus der Haft 1942/43. Hrsg.: Dorothea Zwirner. Klett-Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-608-94699-4.
- ↑ Alice Schwarzer: Dazwischen. In: EMMA. Nr. 11, November 1988, S. 42–43.
- ↑ Unverfroren genug. In: Der Spiegel. 8. Juni 1975, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 8. September 2025]).
- ↑ a b Podcast: 1. Juli 1975: Barbara von Sell wird erste Landesfrauenbeauftragte. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ Ute Aschari, Peter Borowski, Kai Dieckmann, Knut Dohse, Anna Elmiger, Fritz Franz, Klaus-Martin Groth, Elisabeth Kilali, Wolf-Dieter Narr, Eckart Rottka, Jürgen Seifert, Barbara von Sell, Klaus Vack, Wolfgang Wieland: Ausländer sind Mitbürger! Memorandum zur Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg.: Gustav Heinemann Initiative e.V., Humanistische Union e.V., Interessensgemeinschaft der mit Ausländern verheirateten deutschen Frauen e.V., Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Republikanischer Anwaltsverein e.V.,. Komitee für Grundrechte und Demokratie, Sensbachtal 1983, ISBN 3-88906-006-4.
- ↑ Barbara von Sell • AKF Köln - Arbeitskreis Kölner Frauenvereinigungen. In: AKF Köln - Arbeitskreis Kölner Frauenvereinigungen. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ a b Barbara von Sell (1934-2002). Abgerufen am 8. September 2025 (deutsch).
- ↑ Barbara von Sell | Kölner Frauen*Stadtplan. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ Barbara-von-Sell-Berufskolleg: Barbara von Sell. Abgerufen am 8. September 2025.