Anaon (Totenglaube)
Anaon ist ein zentraler Begriff im Totenglauben der Bretonen. Er bezeichnet sowohl die Gesamtheit der Seelen der Verstorbenen als auch – im übertragenen Sinne – die Welt, in der diese Seelen verweilen.
Bedeutung
Das bretonische Wort Anaon (Pluralform von Anav, Seele) bedeutet wörtlich „die Seelen“ oder „die Seelen der Toten“. Es kann sich je nach Kontext beziehen auf:
- die Gesamtheit aller Verstorbenen einer Gemeinde oder Region,
- die Toten einer bestimmten Familie,
- die unsichtbare Gemeinschaft der Ahnen, die die Lebenden begleitet,
- oder den Ort bzw. Zustand, in dem sich die Toten befinden (vergleichbar mit dem Jenseits).
Im Volksglauben heißt es, wer stirbt, „geht zum Anaon“ – das heißt, er schließt sich der Gemeinschaft der Verstorbenen an.
Volksglaube und Bräuche
Rund um das Anaon existierten zahlreiche Bräuche in der ländlichen Bretagne:
- Das Ausläuten der Totenglocke (bretonisch: kloc’h an Anaon) sollte die Gemeinde vom Eintritt einer neuen Seele ins Anaon benachrichtigen.
- Der 2. November – Allerseelen – heißt auf Bretonisch Gouel an Anaon („Fest der Toten“) und war ein besonderer Gedenktag mit Messen und Gebeten für die Toten.
- In manchen Regionen ließ man nachts Brot oder Wasser für das Anaon stehen oder ließ das Feuer im Kamin weiter brennen, um den Seelen der Verstorbenen eine Rückkehr zu ermöglichen.
Literatur und Überlieferung
Die bekannteste literarische Quelle zum Anaon ist das Werk La Légende de la mort en Basse-Bretagne (1893) von Anatole Le Braz. Er sammelte in der westlichen Bretagne zahlreiche Erzählungen, in denen das Anaon als geisterhafte, oft hilfesuchende Präsenz beschrieben wird. Die Seelen kehren darin zurück, um unerfüllte Wünsche zu äußern, um Trost zu suchen oder um Lebende zu warnen.
Symbolik
Das Anaon steht in der bretonischen Mythologie symbolisch für:
- die andauernde Verbindung zwischen Lebenden und Toten,
- das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft,
- den zyklischen Charakter von Leben, Tod und Wiederkehr.
Die Vorstellung vom Anaon trägt dazu bei, den Tod nicht als absolutes Ende, sondern als Übergang in eine andere, aber weiterhin präsente Daseinsform zu sehen.
Rezeption
In der Popkultur wurde der Begriff Anaon in mehreren Werken aufgegriffen, darunter:
- im Roman La Légende de la mort von Le Braz,
- in Liedern bretonischer Musiker,
- in der deutsch-französischen Fernsehserie Anaon – Hüter der Nacht, in der die Zwischenwelt der Toten explizit als „Anaon“ bezeichnet wird.
Literatur
- Anatole Le Braz: La Légende de la mort en Basse-Bretagne. Paris: Calmann-Lévy, 1893.
- Bernard Rio: Voyage dans l'au-delà, les bretons et la mort, Rennes, Éditions Ouest-France, 2013. ISBN 978-2-7373-5809-8.