Alltagsmenschen

Umschlag der Neuausgabe von Alltagsmenschen, 2013; Grafik aus der Zeitschrift Jugend von 1896.

Alltagsmenschen ist der erste Roman der deutschen Schriftstellerin Carry Brachvogel. Er erschien 1895.

Inhalt

Münchens vornehmstes Viertel, in dem sich das Leben der Beckers abspielt, kurz vor der Jahrhundertwende: die Maximilianstraße mit der Oper, dem Hotel Vier Jahreszeiten, dem Maximilianeum und der Pferdebahn.

Die 23-jährige Elisabeth Mey, einzige Tochter des wohlhabenden Münchner Kommerzienrates und Handelsrichters Mey, langweilt sich in ihrem Elternhaus. Sie träumt sich in eine märchenhafte Zukunft hinein: Diese soll dem Beziehungsmodell vom „sonnenmatten Adler und der jubelnden Gefährtin“[Pos 1] entsprechen. Auf einem Ball verlieben sich die junge Frau und der drei Jahre ältere Staatsanwalt und spätere Amtsrichter Dr. iur. Friedrich Becker, Sohn eines bekannten und sehr begüterten Augsburger Großindustriellen, ineinander und heiraten kurz darauf. Für Elisabeth stellt die Ehe zunächst einen willkommenen Abschluss ihres für sie langweiligen Lebens als großbürgerliche Tochter dar, doch schnell fühlt sie sich auch in ihrem neuen Dasein als Haus- und Ehefrau unterfordert und sieht keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Friedrich dagegen ist mit seinem biederen Leben ohne größere Aufstiegschancen zufrieden und enttäuscht Elisabeths hochfliegende Hoffnungen.[1] Die Geburt der Tochter Lieschen kann Elisabeths Sehnsucht nach Abwechslung nur kurz stillen.

Als Lieschen drei Jahre alt ist, lernt das Ehepaar auf einem Ball der Burschenschaft Frankonia im Hotel Vier Jahreszeiten am 15. Januar den Legationsrat Max Heßling kennen, der von da an häufig im Hause Becker zu Besuch ist.

Max und Elisabeth kommen sich näher, und ihr Umfeld fördert dies. So gruppiert etwa bei einer Einladung Ende März die Gastgeberin die Tischordnung noch in letzter Minute um, damit die beiden nebeneinander zu sitzen kommen.[2] Der erste Versuch einer Liebesszene fernab der Gesellschaft endet allerdings mit „beiderseitiger gründlicher Enttäuschung“:[Pos 2] Elisabeth reagiert verächtlich-spöttisch auf den Versuch einer körperlichen Annäherung.

Spätestens bei einem Ausflug im Juli an den Starnberger See mit einer Gruppe von Bekannten wird allen im Umfeld klar, dass sich hier eine Beziehung entwickelt. Um aus ihrem Alltag auszubrechen, beginnen Elisabeth und Max ein Verhältnis. Friedrich aber vertraut Elisabeth blind, obwohl er immer wieder Gerüchte hört und sogar anonyme Briefe bekommt, die ihn auf den Ehebruch seiner Frau hinweisen. Die gegenseitige Anziehung von Elisabeth und Max lässt bald nach.[3] Max stellt, um die Affäre elegant beenden zu können, vage eine berufliche Veränderung in den Raum, die ihn zu einem Ortswechsel an ein Konsulat oder eine Botschaft zwingen würde.[Pos 3] Elisabeth zeigt sich zwar betrübt, aber im Innersten ist auch sie kaum noch an einer Fortsetzung des Verhältnisses interessiert. Beide stellen sich nun auf die Rollen „[d]er starke Held der Pflicht und das hochgesinnte entsagende Weib“ ein und können „wirkliches Erlebnis und Komödie nicht mehr genau unterscheiden“.[Pos 4] Als sich herausstellt, dass sie von Max schwanger ist, ist dieser entsetzt: Er will keine Verantwortung übernehmen und nicht in einen Skandal verwickelt werden.

Das K. Hof- und Nationaltheater ca. 1850

Bei einem Abendessen im März im Lokal Maximilian gegenüber der Oper berührt Max mit seinem Knie statt Elisabeth versehentlich Friedrich, und in diesem Moment erkennt Friedrich die Wahrheit der Gerüchte über den Ehebruch. Am nächsten Tag kommt es zu einer lauten Eheszene, in deren Verlauf Friedrich Elisabeth schlägt und diese vor Verzweiflung über ihre Lage sogar vergisst, ins Kinderzimmer zu ihrer kranken Tochter zu gehen. Sie fürchtet, dass Friedrich sie aus dem Haus wirft und sie Lieschen nie mehr sehen kann. Sie denkt an Selbstmord, verwirft den Gedanken aber schnell wieder.[Pos 5] Bei dem anschließenden Duell zwischen Friedrich und Max schießt dieser absichtlich daneben und wird selbst nur leicht am Arm verletzt. Die folgenden Wochen verbringt Max auf Kur in Spanien, was er Elisabeth in einem Brief mitteilt, und wartet dort auf seine Berufung zum Gesandten. Sein halbherziges Heiratsangebot nimmt Elisabeth nicht an, die Beziehung hat ihren Reiz verloren: „Wenn sie augenblicklich überhaupt instande war, sich über etwas zu freuen, so freute sie sich, daß sie ihn los war.“[Pos 6] Lieschens Krankheit verschlimmert sich indessen erheblich. Elisabeth pflegt sie aufopfernd, auch Friedrich bangt um sein Kind und beide wachen sie an seinem Bett. Anfangs will Friedrich sich scheiden lassen, doch Elisabeths Verhalten in diese Krise macht ihm deutlich, wie sehr Lieschen seine Mutter braucht. Lieschen wird wider alle Erwartungen gesund.

Elisabeth bringt in Abwesenheit ihres Ehemannes eine zweite Tochter zur Welt, von deren Vaterschaft sich Friedrich nicht öffentlich distanziert. Als Friedrich ohne Ankündigung zurückkehrt, überschüttet er Lieschen mit Geschenken, hat aber für Elisabeth und das Kleine nur zwei Anstandsgeschenke gekauft, „der Leute wegen“.[Pos 7] Das Ehepaar lebt weiterhin zusammen. Friedrich behandelt seine Frau „mit dieser erzwungenen Freundlichkeit vor Fremden, mit dieser unhöflichen Gleichgiltigkeit, wenn sie ohne Zeugen waren“[Pos 8], er kommt über den Ehebruch nicht hinweg. Elisabeth leidet darunter, dass die jüngste, noch am Ende des Romans namenlose Tochter von Friedrich nicht so geliebt wird wie Lieschen. Für das Wohl der beiden Kinder halten die beiden an einer Ehe fest, die zu dieser Zeit nur noch auf dem Papier besteht.[4] Ob die Fortsetzung der Ehe durch die großen Zugeständnisse von Elisabeth und Friedrich dauerhaft gelingt, erscheint fraglich.[5] Der Roman endet, nachdem Friedrich das Baby zum ersten Mal gesehen hat, mit dem Satz „Und mit einem Thränenstrom warf sie sich über ihr kleines Kind hin.“[Pos 9]

Form

Auf dem Starnberger See unternimmt die Gesellschaft eine Rundfahrt mit dem Dampfer Luitpold; Abbildung 1897 oder früher

Der auktoriale Roman ist in zwanzig Kapitel eingeteilt. Innenperspektiven der Haupt- und auch einiger Nebenfiguren kommen häufig vor. Sie ermöglichen der Autorin, beim Lesen die Gedanken und Gefühle der beteiligten Figuren in einer bestimmten Situation einander ausführlich gegenüberzustellen. Ein Beispiel hierfür ist die Szene mit der Wanderung am Starnberger See, bei der Max und Elisabeth nebeneinander am Schluss der Gesellschaft gehen.[Pos 10]

Die Haupthandlung spielt sieben Jahre nach Elisabeth Hochzeit in München. Der Roman setzt mit der Ankündigung der Vermählungsankündigung ein, gefolgt von einer Rückblende auf Elisabeths Familie, Kindheit und Jugend, und schreitet dann nach einem Zeitsprung von sieben Jahren chronologisch fort. Orte der Handlung sind überwiegend großbürgerliche Wohnungen in München-Schwabing.

Brachvogel setzt häufig zeitliche Dehnung und Raffung ein, um inhaltliche Schwerpunkte zu setzen.[5] So wird etwa Elisabeths ganzes Leben bis zu Lieschens drittem Lebensjahr in nur zwei Kapiteln beschrieben, während der Ausflug an den Starnberger See, an dessen Ende Max und Elisabeth ein Paar werden, großen Raum einnimmt (Kapitel VIII). Dies eröffnet der Autorin die Möglichkeit, das Innenleben der beiden Verliebten und die unterschiedlichen Reaktionen der Außenwelt ausführlich darzustellen.[5] Brachvogel schildert ausführlich Friedrichs innere Verfassung nach der Erkenntnis, dass Elisabeth ihn betrogen hat und benutzt dafür zum Teil erlebte Rede.[5]

Titel

Brachvogel stellt durchschnittliche Charaktere dar, die egoistisch sind und von ihren Rollen bestimmt werden.[6]

Friedrich wird explizit als Durchschnittsmensch bezeichnet.[Pos 11] Elisabeth genießt die gesellschaftliche Aufwertung, die sie durch das Verhältnis mit Max erfährt: Sie erhält weit mehr Besuche als früher, ihre Bekanntschaft wird gesucht.[7] Als Max seinen Übertritt in den diplomatischen Dienst anspricht, sieht Elisabeth in seinem Aufstieg mögliche Vorteile für sich selbst.[Pos 12] Zwar wäre sie gerne eine „außergewöhnliche Frau“, erkennt aber: „[...] sie war [...] bei weitem nicht groß genug, um ihr Thun nur vor den Gesetzen des eigenen Ichs verantworten zu wollen und zu können.“[Pos 13] Beide Ehepartner sind dem großbürgerlichen Eheideal und vor allem der Verantwortung für ihren Nachwuchs so sehr verpflichtet, dass sie keine Alternative zu dieser Beziehungsform entwickeln können.[5]

Max empfindet das Verhältnis nur als Zeitvertreib: „Für Max war die ganze Sache von Anfang an nur eine Spielerei gewesen, bei der er sich lange Zeit hindurch überhaupt gar nichts dachte, und als sie nun weiter geführt hatte, wie er's vermutet, da freute er sich seiner reizenden Eroberung [...].“[Pos 14] Binden will er sich nicht.[8] Er ist zu sehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht, um das romantische Liebesideal ins Zentrum seines Lebens stellen zu können.[5] Elisabeth schätzt ihn als brennend ehrgeizig ein.[Pos 15]

Literarisches Neuland betritt Brachvogel, wo sie die Überlegungen Friedrichs zur Zukunft seiner Tochter nach einer eventuellen Scheidung ins Zentrum stellt. Friedrich lässt sich nicht von einem überkommenen Ehrbegriff leiten wie Baron von Imstetten in Effi Briest, sondern wird als gefühlvoller Vater gezeigt, der sich dem Kindeswohl verpflichtet fühlt.[5] Rollenmodell ist hier Karenin aus Leo Tolstois Roman Anna Karenina, der an einigen Stellen zitiert wird.

Themen

Friedrich liest täglich am Frühstückstisch die Münchner Neuesten Nachrichten.

In Alltagsmenschen wird am Beispiel des Lebens der jungen Ehefrau und Mutter Elisabeth Becker das Münchner Großbürgertum am Ende des 19. Jahrhunderts mit großer Genauigkeit satirisch dargestellt.

Theaterzettel Trompeter von Säckingen, Uraufführung 1884

Wenn auch charakterlich durchschnittlich, so sind die Figuren doch kulturell auf der Höhe der Zeit: Sie lesen täglich Zeitung, häufig wird der bildungsbürgerliche Kanon der Zeit beiläufig als Hintergrund der Ereignisse benutzt. So zeigt sich Max als Opernkenner: Auswendig zitiert er einen fünfzeiligen Vers aus dem Vorspiel von Viktor Nesslers Oper Der Trompeter von Säkkingen, die um die Jahrhundertwende sehr erfolgreich war. Er huldigt Elisabeth mit den Worten: „Ich kniee vor Euch als getreuer Vasall, / Pfalzgräfin, schönste der Frauen! / Befehlt, so streit ich für Kaiser und Reich, / Befehlt, so will ich für Euch, für Euch / Die Welt in Fetzen zerhauen.“[Pos 16] An dem Abend, an dem Friedrich den Ehebruch seiner Frau aufdeckt, wird im gegenüberliegenden Opernhaus Richard Wagners Oper Götterdämmerung aufgeführt, deren Handlung für die Nibelungen in die Katastrophe führt.[Pos 17] Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften wird von angesagten Autoren wie Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen gesprochen, auch von „Spiritismus, Magnetismus und Hypnotismus – lauter geheimnisvollen Dingen, die damals nach jahrzehntelanger Pause gerade erst wieder modern geworden waren“.[Pos 18] Elisabeths Lieblingsbücher sind von Zola, Ibsen und Tolstoi.

Die Autorin wendet sich gegen die Rolle, die Frauen in der patriarchalen Gesellschaft der Zeit zu spielen hatten. Die gesellschaftlichen und individualpsychologischen Gegebenheiten, die zum Ehebruch führen, und die Macht des Mannes über Leben und Tod im Fall der Aufdeckung werden dargestellt: „[...] der Gatte, den sie betrogen, und der sie totschlagen konnte, wenn sie heut Abend ungeschickt log...“[Pos 19] Brachvogel zeigt, wie Menschen durch ihre Klasse und ihr Herkunftsmilieu für ihr ganzes Leben geprägt werden:[9] Die traditionelle bürgerliche Erziehung schaffe Menschen, die vom Leben der Mehrheit der Bevölkerung abgekoppelt seien und aus Langeweile die Sehnsucht nach außergewöhnlichen Erlebnissen entwickeln: „Von wirklicher Liebe konnte in dem sündigen Verhältnis kaum die Rede sein; Elisabeths unbestimmte sehnsuchtsvolle Langeweile hatte sich endlich zu dem Bedürfnis abgeklärt, etwas Aufrüttelndes zu erleben [...].“[Pos 20] Als Beispiel hierfür wählt Brachvogel den Ehebruch und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die dieser nach sich zieht.[10] Elisabeths Kindheit, Jugend und Leben als Ehefrau und Mutter dienen Brachvogel dazu, die Frauenrolle in der Wirklichkeit des Großbürgertums ihrer Zeit zu kritisieren, indem sie deren Folgen zeigt. Damit steht sie im Einklang mit der modernen bürgerlichen Frauenbewegung, die für das Recht der Frauen auf Beruf und Bildung eintritt und um diese Zeit in München an die Öffentlichkeit tritt.[10]

Religion spielt im Leben der Figuren wohl keine große Rolle. Elisabeth eilt allerdings nach Friedrichs Heiratsantrag in die Kirche, um Gott um Demut zu bitten, auf die kirchliche Trauung wird als „Kirchenceremonie“ Bezug genommen.[Pos 21] Bibelkenntnis ist bei Elisabeth wohl vorhanden. So bezeichnet sie ihr Dasein vor der Ehe in der „schier beängstigenden Atmosphäre des Glücks und der Sorglosigkeit“ im Anklang an das Evangelium nach Matthäus (Mt 6,28-29 ) als „Lilienaufdemfelddasein“.[Pos 22]

Stellung im Werk

Carry Brachvogel, Autorin von Alltagsmenschen

Alltagsmenschen, der erste Roman Carry Brachvogels, erschien 1895 im S. Fischer Verlag Berlin, dem führenden Verlag des Naturalismus. Ernst von Wolzogen, Brachvogels damaliger Förderer mit viel Einfluss und einem großen Netzwerk, hatte den Kontakt dorthin vermittelt. Ihr Debüt als Schriftstellerin hatte Brachvogel ein Jahr früher mit der Uraufführung des heute verschollenen Dramas Vergangenheit in Frankfurt.[9] Insgesamt publizierte die sehr produktive Autorin etwa 40 Werke. Romane, Novellen, Erzählungen, zwei Theaterstücke, historische Frauenbiografien, ein Kriminalroman, Legenden, zahlreiche Feuilletons und Essays sind Zeugnisse ihrer Vielseitigkeit.[11]

Der Ladenpreis des Buches betrug 3,50 Mark, was etwa dem Tageslohn eines Arbeiters entsprach.[12]

Zeitgeschichtliche Einordnung

München war in dem Jahrzehnt zwischen 1895 und 1905 als Stadt der Jugend bekannt und versammelte eine große Zahl von Kreativen in den Bereichen Musik, Literatur und bildende Kunst. Hier entwickelte sich der Jugendstil, aber auch die bürgerliche Frauenbewegung, die sich für Frauen für das Recht auf Erwerbstätigkeit und Bildung starkmachte.[12] Ab 1894 traten hier Schriftstellerinnen wie Carry Brachvogel, Gabriele Reuter und Helene Böhlau sowie Politikerinnen wie Ika Freudenberg, Anita Augspurg und Sophia Goudstikker an die Öffentlichkeit:[13] Durch sie wurde die traditionelle Frauenrolle auf den Prüfstand gestellt.

Soxhlet-Apparat zur Sterilisierung von Kuhmilch, 1911

Zeitlicher Wandel wird im Text beispielsweise beim Thema Säuglingsnahrung spürbar. Für ihre zweite Tochter hat Elisabeth einen Soxhlet-Apparat gekauft. Dieser ermöglichte ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Basis der Forschungen des Chemikers Franz von Soxhlet die Pasteurisierung von Kuhmilch in kleinen Flaschen zu Hause. Die technische Neuerung wird zwar stolz den Besucherinnen präsentiert, aber Elisabeths Innensicht offenbart die Nachteile: Sie sehnt sich nach der körperlichen Nähe zu ihrem Baby, die sie mit dem Stillen verbindet. Doch um in der angespannten Situation zwischen den Ehepartnern die Nachtruhe ihres Mannes nicht zu stören, unterdrückt sie ihr Bedürfnis.[Pos 23]

Literaturgeschichtliche Einordnung

Im 19. Jahrhundert wurde die Situation von Ehefrauen aus dem großbürgerlichen Milieu, die von sozialen Normen an einem eigenen Leben gehindert werden und diese Enge durch Ehebruch zu sprengen versuchen, immer wieder in Eheromanen und Erzählungen verarbeitet. Beispiele sind Anna Karenina (1873 bis 1878) von Lew Tolstoi, Madame Bovary (1857) von Gustave Flaubert und Effi Briest (1894/1895) von Theodor Fontane. Dieses Werk entstand fast gleichzeitig mit Alltagsmenschen, beide zeigen bis auf das Ende der untreuen Ehefrau auffallende Gemeinsamkeiten in Handlung und naturalistischem Stil, gleichwohl ist eine Beeinflussung Brachvogels durch Fontane aufgrund der zeitlichen Nähe der Veröffentlichung der beiden Romane wenig wahrscheinlich.[4] Wiederkehrende Motive in allen Romanen mit dieser Thematik sind das Duell von Ehemann und Liebhaber sowie das mangelnde Verständnis des Ehemannes für seine Frau. Alltagsmenschen setzt jedoch hier ganz eigene Schwerpunkte: Ehestreit und Duell, in anderen Werken häufig breit und dramatisch dargestellt, werden hier nur kurz und im Rückblick aus der auktorialen Erzählperspektive behandelt. Die Trennung von Ehefrau und Liebhaber wird leidenschaftslos aus dem schnell banal gewordenen Verhältnis erklärt und führt nicht zur Katastrophe: Beide sind erleichtert über die Möglichkeit, sich ohne Verwicklungen und große Gefühle trennen zu können. Der Roman läuft nicht auf den Tod der Ehebrecherin zu, sondern auf die Bewältigung der Krise durch die Figuren.[5]

Ein besonderes Merkmal des Romans sind die zahlreichen und detaillierten Schilderungen des Alltagslebens der dargestellten Klasse. Durch die differenzierte Innensicht mehrerer Figuren werden die individuellen, aber auch die gesellschaftlichen Gründe für ihr Verhalten zueinander und ihre Einstellung zur Ehe deutlich.

Eine Rezension in der Neuen Badischen Landeszeitung bemerkte in der Art, wie Brachvogel am Ende des Romans die Kälte zwischen Elisabeth und Friedrich beschreibt, einen Bezug zu Friedrich Hebbel: „Ein Hauch wie aus Hebbelschen Kunstgebilden, herb, aber stählend und kräftigend weht uns an“.[14] Hebbel war ein literarisches Vorbild für Brachvogel: 1911 hatte sie im Verein für Fraueninteressen den Vortrag Hebbel und die moderne Frau gehalten.[15] Darin stellte sie das Frauenbild der deutschen Klassik dem neuen Typus der selbstbestimmten Frau gegenüber.

Biografische Einordnung

Brachvogels Wohngegend ab 1894, in der auch Elisabeth und Friedrich leben; Ludwigstraße am Siegestor in München

Bei Erscheinen des Romans lebte Carry Brachvogel konträr zu den Rollenvorstellungen des Kaiserreichs: Ihr Mann war 1892 ertrunken, und sie hatte sich gegen eine erneute Ehe zur Versorgung ihrer selbst und ihrer beiden Kinder entschieden. Sie veröffentlichte in den nächsten Jahren zahlreiche Werke. 1894/1895 gründete sie in ihrer Wohnung in der damaligen Ludwigstraße 17b neben dem Siegestor einen literarischen Salon, der Persönlichkeiten aus den Bereichen Literatur und Kunst anzog und sich schnell zu einem Treffpunkt des literarischen Lebens in München entwickelte.[16] Als arbeitende, unabhängige Witwe war sie in dieser Zeit eine Seltenheit. Damit unterschied sich ihr Leben grundlegend von dem ihrer Protagonistin aus Alltagsmenschen. Doch ihre Kenntnis des Alltagsleben, der Geschlechterbeziehungen und der Rollenbilder im Münchner Großbürgertum der Zeit ermöglichte ihr den satirischen Blick auf die Gesellschaft im Roman.[17]

Rezeption

Verlagssignet des S. Fischer Verlags, Berlin, in dem Alltagsmenschen 1895 erschien

Zeitgenössische Rezeption

Die zeitgenössische Kritik war von Alltagsmenschen begeistert.[18] Das Werk hatte auch überregional großen Erfolg. Gelobt wurden Brachvogels psychologisches Einfühlungsvermögen, ihre herausragende Begabung für die erzählerische Darstellung von Figuren und Geschehnissen und ihre großen poetischen Fähigkeiten.[18] Hedwig von Alten lobte in Ethische Kultur Brachvogels „Sitten- und Charakterschilderung der sogenannten guten Gesellschaft.“ „Ihr Blick ist scharf! nicht der kleinste Schatten, nicht die unscheinbarste Krümmung der Linie entgeht demselben, und mit der Objektivität des Naturforschers teilt sie uns mit, was sie gesehen.“[19]

Für Christian Morgenstern galt Carry Brachvogel bereits kurz nach dem Erscheinen ihres ersten Romans als Vertreterin moderner Frauenliteratur, weil sie in ihrem Werk lebendige Figuren geschaffen habe: Sie habe begonnen, „das Genre des humoristisch-satirischen Romans anzubauen. Alltagsmenschen ist die Geschichte einer Ehe, die durch einen Dritten gestört und ihres Glückes“ beraubt wird.[20]

Rezeption im 21. Jahrhundert

Die Neuauflage 2014 wurde von Michaela Metz in der Süddeutschen Zeitung als Gewinn gesehen. Sie hob hervor, dass Elisabeths Leben gewöhnlich erscheine: Das zum Ehebruch führende Szenario sei durch das Auseinanderfallen hochfliegender Erwartungen und eine langweilige Ehe mit einem durchschnittlichen Juristen bedingt. Anerkennung fand bei ihr Brachvogels Fähigkeit, Schicksale mit einer Mischung aus Boshaftigkeit und Milde darstellen und das Lesepublikum gekonnt ins Innere der Figuren zu führen. Hier fänden auch peinliche Überlegungen und Ideen der Figuren ihren Platz.[21]

Ausgaben

Titelblatt der Erstausgabe des Romans von 1895 im S. Fischer Verlag
  • Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. S. Fischer Verlag, Berlin 1895.
  • Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen. Herausgeber; Monacensia, edition monacensia. 2013, Allitera Verlag, München, ISBN 978-3-86906-538-0.

Literatur

Zitierte Ausgabe

  • Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ingvild Richardsen. Herausgeber; Monacensia, edition monacensia. 2013, Allitera Verlag, München, ISBN 978-3-86906-538-0
  1. S. 17.
  2. S. 155.
  3. S. 74–75.
  4. S. 76.
  5. S. 108.
  6. S. 141.
  7. S. 153.
  8. S. 140.
  9. S. 153.
  10. S. 68–69.
  11. S. 16.
  12. S. 76.
  13. S. 78.
  14. S. 71.
  15. S. 75.
  16. S. 52.
  17. S. 98.
  18. S. 48.
  19. S. 99.
  20. S. 71.
  21. S. 12.
  22. S. 9.
  23. S. 143.

Einzelnachweise

  1. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 39: „Er war eben auch da vollkommen Durchschnittsmensch.“
  2. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 41.
  3. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 73: „Bald sah sie denn auch den einst so heiß erwarteten Liebesstunden ohne fiebernde Ungeduld entgegen, und es verletzte sie nicht einmal besonders, daß Max sich schon ein paar Mal dabei verspätet hatte, nur um Minuten natürlich, aber immerhin verspätet; er wiederum gestand sich erleichtert ein, daß Elisabeth einen allenfallsigen Bruch wohl nicht mit dem Leben oder mit ihrem Lebensglück bezahlen würde.“
  4. a b Judith Ritter: Die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel. Literatin, Salondame, Frauenrechtlerin. In: Jüdische Studien. Band 12. De Gruyter / Oldenbourg, München 2016, ISBN 978-3-11-049064-0, S. 117, doi:10.1515/9783110493139.
  5. a b c d e f g h Anne-Rose Meyer: Alltagsmenschen. Roman (1895). In: Gudrun Loster-Schneider, Gabi Pailer (Hrsg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730-1900). A. Francke, Tübingen, Basel 2006, ISBN 3-7720-8189-4, S. 59–60.
  6. Ingvild Richardsen: Nachwort zu Carry Brachvogels Alltagsmenschen. In: Carry Brachvogel (Hrsg.): Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 155–175; 173.
  7. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 74: „Männer, die sie früher fast völlig übersehen hatten, bestrebten sich jetzt, ihre Bekanntschaft zu machen, und auch die, ach so zahlreichen Frauen der guten Gesellschaft, deren Vergangenheit oder Gegenwart einen dunklen Punkt aufwies, bezeigten ihr jetzt, da ihrem Tugendkrönlein eine Perle entfallen, weit mehr Sympathieen als damals, da sie noch zu den unbesprochenen und folglich auch zu dem besten Frauen gehörte.“
  8. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 73: „[...] bis er eines schönen Tages unversehens in jenem verhaßten Hafen landete, den der Franzose collage benennt, während der Deutsche, eines gleichlautenden Wortes entbehrend, es galant und sentimental mit unlöslicher Liebesbund umschreiben muß.“
  9. a b Ingvild Richardsen: Carry Brachvogel (1864–1942). In: Ingvild Richardsen (Hrsg.): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894-1933. Volk Verlag, München 2018, ISBN 978-3-86222-271-1, S. 82–97; 84.
  10. a b Ingvild Richardsen: Carry Brachvogel und ihr Roman „Alltagsmenschen“. In: https://www.literaturportal-bayern.de/. Abgerufen am 28. Mai 2025.
  11. Ingvild Richardsen: Carry Brachvogel (1864-1942). In: Ingvild Richardsen (Hrsg.): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894–1933. Volk Verlag, München 2018, ISBN 978-3-86222-271-1, S. 82–97; 82.
  12. a b Ingvild Richardsen: Nachwort zu Carry Brachvogels Alltagsmenschen. In: Monacensia (Hrsg.): Carry Brachvogel. Alltagsmenschen. Roman. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 155–175; 155.
  13. Ingvild Richardsen: Nachwort zu Carry Brachvogels Alltagsmenschen. In: Monacensia (Hrsg.): Carry Brachvogel. Alltagsmenschen. Roman. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 155-–75; 156.
  14. N. N.: Rezension zu Carry Brachvogels Roman Alltagsmenschen aus der Neuen Badischen Landeszeitung vom 30. Juni 1895. In: Carry Brachvogel (Hrsg.): Die Wiedererstandenen. Cäsarenlegenden. Fischer, Berlin 1900, S. 211.
  15. Verein für Fraueninteressen e. V.: Jahresbericht 1913, München, S. 9; zitiert nach Ingvild Richardsen: Nachwort zu Carry Brachvogels ‚Alltagsmenschen‘. In: Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Roman. Allitera Verlag, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 155–175; 170
  16. Ingvild Richardsen: München, Ludwigstraße 33 (Carry Brachvogel). In: https://www.literaturportal-bayern.de/. Abgerufen am 6. Juni 2025.
  17. Carry Brachvogel: Alltagsmenschen. Allitera, München 2013, ISBN 978-3-86906-538-0, S. 40–41: „Die Gesellschaft kuppelt ja gar zu gern, selbst dann, wenn sich das beschützte Paar nicht gerade auf die Brautkammer kapriziert, sondern findet, daß man sich auch ohne Ring am Finger etwas zu Liebe thun könnte. Es liegt etwa mephistophelisches in der neugierigen Freude, mit der sie zusieht, wie unerlaubte Beziehungen sich anspinnen und etwas unendlich feiges in der Entrüstung, mit der sie sich von dem sündigen Paar zurückzieht, sobald der Skandal öffentlich geworden ist, derselbe Skandal, den sie vorher sorgsam beschützt und langsam ausgebrütet hat.“
  18. a b Ingvild Richardsen: Carry Brachvogel (1864-1942). In: Ingvild Richardsen (Hrsg.): Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894–1933. Volk Verlag, München 2018, ISBN 978-3-86222-271-1, S. 82–97; 85.
  19. Hedwig von Alten: Rezension zu Alltagsmenschen vom 12. Oktober 1895 in Ethische Kultur. In: Carry Brachvogel (Hrsg.): Die Wiedererstandenen: Cäsarenlegenden. Fischer, Berlin 1900, S. 212.
  20. Christian Morgenstern: Wie moderne Frauen schreiben. In: Helmut Gumtau (Hrsg.): Christian Morgenstern. Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe. VI, Kritische Schriften, Nr. 119. Stuttgart 1987, S. 303–309, Kommentar S. 769–773.
  21. Michaela Metz: Wie eine Lilie auf dem Feld. Carry Brachvogels Debütroman aus dem Jahr 1895 über ein Münchner Frauenschicksal ist wieder da. In: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2014, S. 14.