Agitation und Propaganda gegen den Staat

Agitation und Propaganda gegen den Staat (albanisch Agjitacion dhe Propagandë kundër shtetit) war ein Verbrechen, das in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien (1945–1991) gemäß Paragraph 55 des albanischen Strafgesetzes unter Strafe gestellt war. Die Strafe stütze sich auf Artikel 55 der Albanischen Verfassung.[1][2][3]

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war vor allem der Begriff konterrevolutionäre Aktivitäten verwendet. Mit der Zeit wurde dieser allmählich durch die Bezeichnungen Agitation und Propaganda ersetzt.[4][5]

Die Gesetzesnorm diente dem Regime, Andersdenkende zu verfolgen. Dabei ging es um viel mehr als um die Verfolgung politischer Dissidenten. Als politischer Gefangener endeten viele, die nicht der Mehrheit folgten oder nur leichte Kritik am Regime äußerten, in irgendeiner Form von der „Parteilinie“ abwichen. Die Bestrafung hatte auch einen stark abschreckenden Charakter, um „jeglichen Ungehorsam soweit möglich von vornherein auszuschalten“ (Anita Niegelhell, Gabriele Ponisch: Wir sind immer im Feuer).[6][7] Angst wurde zum Machtinstrument des totalitären Regimes, das durch die Sigurimi immer und überall mithörte.[8]:42[9] Erhöht wurde diese Verunsicherung, da dem staatlichen Handeln jegliche Logik fehlte und so unmöglich war, Folgen von Handlungen vorauszusehen.[10]:48

Gemäß Paragraph 55 des Strafgesetzbuches des kommunistischen Albaniens wurde „Propaganda und Agitation, die zum Sturz oder Unterwanderung der albanischen Macht aufrief“, mit mindestens sechs Monaten Gefängnis oder in Zeiten von Krieg oder Aufstand höchstens mit dem Tod bestraft.

Gesetzestexte

Die gesetzlichen Bestimmungen veränderten sich über die Zeit immer wieder.[11]

Artikel 55 der Verfassung von 1976 lautete:

„Die Bildung jeglicher Art von Organisation mit einem faschistischen, anti-demokratischen, religiösen oder anti-sozialistischen Charakter ist verboten.

Faschistische, anti-demokratische, religiöse, kriegstreibende und anti-sozialistische Aktivitäten und Propaganda sowie die Anstachelung zu nationalem und rassistischem Hass sind verboten.“[2]

Paragraph 55 des Strafgesetzbuches von 1977 lautete:

„Agjitacioni e propaganda fashiste, antidemokratike, fetare, luftënxitëse, antisocialiste, si edhe përgatitja, përhapja ose ruajtja për përhapje e literaturës me përmbajtje të tillë për të dobësuar ose minuar shtetin e diktaturës së proletariatit, dënohet:

  • Me heqje të lirisë nga 3 gjer në 10 vjet.
  • Po këto vepra, kur janë kryer në kohë lufte ose kanë shkaktuar pasoja veçanërisht të rënda, dënohen:me heqje të lirisë jo më pak se 10 vjet ose me vdekje.“

„Faschistische, antidemokratische, religiöse, kriegstreiberische und antisozialistische Agitation und Propaganda sowie die Vorbereitung, Verbreitung oder Aufbewahrung zur Verbreitung von Literatur mit Inhalten, die den Staat oder die Diktatur des Proletariats schwächen oder untergraben, wird bestraft:

  • Mit Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren.
  • Dieselben Taten werden, wenn sie in Kriegszeiten begangen werden oder besonders schwere Folgen haben, mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren oder mit dem Tod bestraft.“[11]

1990 wurde der Gesetzeswortlaut abgeschwächt, 1992 wurde die Strafnorm ganz gestrichen.[11]

Anwendung

Agitation und Propaganda gehörten zu den Verbrechen gegen den Staat – zu diesem „Verrat am Vaterland“ gehörten auch Sabotage und Beschädigung sozialistischen Eigentums, Vermögensveruntreuung und andere Straftaten. Das Verhalten wurde in Verbindung gebracht mit Dekadenz, moralischem Verfall, Zurschaustellung des Auslands und Beeinflussung durch die bürgerlich-revisionistischen Welt, gewaltsamen Sturz der Volksmacht, Attentatsversuchen, Revisionismus, Opportunismus oder auch Liberalismus innerhalb der Partei der Arbeit.[12] Auch der politische Missbrauch der Psychiatrie wurde eingesetzt zur Verfolgung von Der Vorwurf der Agitation oder Propaganda ließ sich besonders leicht vorbringen, da er recht unbestimmt ist und als Beweis nur eine Zeugenaussage benötigte.[11]

So wurden der Vorwurf von Agitation und Propaganda zu den häufigsten Rechtsinstrumenten des Regimes, um Abweichler zu verfolgen. Jegliche Kritik an der Regierung und dem Regime konnte so verfolgt werden.[10]:47 f Dabei wurden die Gesetzes- und Verfahrensbestimmungen oft nicht eingehalten.[8]:26 f Die Möglichkeit, Gerichtsurteile anzufechten, standen genauso wenig zur Verfügung wie ein unabhängiger Rechtsbeistand. Viele Strafen wie beispielsweise die Internierung inklusive Angehöriger oder die Entlassung aus einer Arbeitsstelle konnten auch ohne Gerichtsurteil verfügt werden.[13]

„Wegen der unbedingten Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der vorgegebenen Norm an Denk- und Verhaltensweisen mußten nicht nur tatsächliche, sondern auch alle potentiellen Träger von Widerstand exekutiert, verhaftet und/oder interniert werden.“

Anita Niegelhell, Gabriele Ponisch: Wir sind immer im Feuer[6]

Die Vorwürfe, wegen der Personen verurteilt waren, waren oft unbedeutende Äußerungen: Die Klage über hohe Preise oder Nichtverfügbarkeit von Lebensmitteln brachte Menschen genauso ins Gefängnis wie Ideen zu einer – unerlaubten – Ausreise ins Ausland („Wie lange schwimmt man von Saranda nach Korfu?“ (Wir sind immer im Feuer)). Wegen Witzen[10]:143 oder kleinen Äußerungen wurde man zum „Volksfeind“. Schon eine harmlose Aussage eines Kinds über die Eltern konnte als Grundlage dienen. Oft wurden auch benachteiligte Person genötigt, mit der Sigurimi zusammenzuarbeiten und andere Personen zu beschuldigen. Ansonsten wurde man schnell zur Zielperson ihrer Vorwürfe. In Albanien sagte man, die Wände hätten Ohren – Ismail Kadare schrieb ein ganzes Buch über die Abhörtechniken der Sigurimi.[10]:47 f, 79, 142

So endeten Tausende „echte oder vermeintliche Regimegegner“ (Thomas Kacza: Zwischen Feudalismus und Stalinismus) in den Gefängnissen und Arbeitslagern des Landes, Zehntausende waren in abgelegenen Dörfern interniert.[14][15]:226 Mitbetroffen waren meist auch Familienangehörige, die als Art Sippenhaftung oft ebenfalls interniert oder unter Vorwänden zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.[8]:27, 124 Die Anzahl der Opfer des kommunistischen Regimes während der 45-jährigen Diktatur wird auf 34.000 politische Gefangene geschätzt, davon 7000 Frauen. Etwa 1000 politische Gefangene sollen verstorben sein, während 6000 weitere hingerichtet wurden. 60.000 Menschen wurden interniert.[16]

Die Strafnorm wurde gegen viele Religionsvertreter und Gläubige angewandt. Der Sängerin Alida Hisku wurde ein Tagebucheintrag vorgeworfen.[17] Der Architekt und Maler Maks Velo habe zu viel ausländische Einflüsse in seinem Schaffen gehabt. Zu den Verurteilten wegen Agitation und Propaganda gehören unter vielen anderen auch Fatos Lubonja[18]:70, Vladimir Balluku[19] und Kiço Ngjela, alles Söhne von hohen Regimevertretern, die in die Missgunst von Enver Hoxha gefallen waren.

Artikel 55 wurde von Kritikern der Diktatur als schwere Menschenrechtsverletzung betrachtet, schränkte er doch stark die Meinungsfreiheit ein.[8]:43 f[14]

Rezeption

Noch heute wird in Albanien der „Artikel 55“ regelmäßig mit der Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit in Zusammenhang gebracht und in politischen Diskussionen immer wieder auf ihn verwiesen, so beispielsweise 2025 im Zusammenhang mit der Revision des Strafgesetzes.[20][21]

Die albanische Zeitschrift „Gazeta 55“ bezieht sich in ihrem Namen auf den „Artikel 55“.

Einzelnachweise

  1. William B. Simons: The Constitutions of the Communist World. Sijthoff & Noordhoff, Alphen ann den Rijn / Germantown 1980, ISBN 978-90-286-0070-6.
  2. a b The Albanian Constitution of 1976. In: Kultursociolog Bjørn Andersen. 17. März 2005, abgerufen am 6. Juli 2025 (englisch).
  3. Georgia Kretsi: Verfolgung und Gedächtnis in Albanien: eine Analyse postsozialistischer Erinnerungsstrategien (= Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin [Hrsg.]: Balkanologische Veröffentlichungen. Band 44). Harrassowitz, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-447-05544-4, S. 128 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. Kolec Topalli: Communist Persecution in Albanian Studies. In: AlbanianHistory.net. Robert Elsie, 2010, abgerufen am 6. Juli 2025 (englisch).
  5. Fred Abrahams: Human rights in post-communist Albania. Hrsg.: Human Rights Watch. New York 1996, ISBN 1-56432-160-6, S. 11 (Volltext in der Google-Buchsuche).
  6. a b Anita Niegelhell, Gabriele Ponisch: Wir sind immer im Feuer: Berichte ehemaliger politischer Gefangener im kommunistischen Albanien (= Zur Kunde Südosteuropas. Albanologische Studien. Band 2). Böhlau, Wien 2001, ISBN 978-3-205-99290-5, S. 25 f.
  7. Enriketa Papa-Pandelejmoni: Living and Surviving Communism in Albania:. In: Aspasia. Band 16, Nr. 1, 1. Juni 2022, ISSN 1933-2882, S. 201, doi:10.3167/asp.2022.160113 (berghahnjournals.com [abgerufen am 18. August 2025]).
  8. a b c d Anita Niegelhell, Gabriele Ponisch: Wir sind immer im Feuer: Berichte ehemaliger politischer Gefangener im kommunistischen Albanien (= Zur Kunde Südosteuropas. Albanologische Studien. Band 2). Böhlau, Wien 2001, ISBN 978-3-205-99290-5.:26 f
  9. Dardan Gashi, Ingrid Steiner-Gashi: Albanien: archaisch, orientalisch, europäisch (= Brennpunkt Osteuropa). 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Promedia, Wien 1997, ISBN 978-3-85371-120-0, S. 207.
  10. a b c d Shannon Woodcock: Life is War: Surviving Dictatorship in Communist Albania. Intellect Books Ltd, Bristol 2016, ISBN 978-1-910849-03-3.
  11. a b c d Kastriot Derivishi: Dënimi për agjitacion në vitet 1946-1992. In: 55 News. 4. Oktober 2018, abgerufen am 18. August 2025 (albanisch).
  12. Azem Qazimi et. al.: Fjalor enciklopedik i viktimave të terrorit komunist. Hrsg.: Instituti i studimit të krimeve dhe pasojave të komunizmit. I „A-Ç“. West Print, Tirana 2012, ISBN 978-9928-16801-6, S. 64.
  13. Wolfgang Stoppel: Rechtssystem. In: Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg.): Albanien (= Südosteuropa-Handbuch. Band VII). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, ISBN 3-525-36207-2, S. 279.
  14. a b Çelo Hoxha: Albania. In: communistcrimes.org. Estonian Institute of Historical Memory, abgerufen am 18. August 2025 (englisch).
  15. Thomas Kacza: Zwischen Feudalismus und Stalinismus: albanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 1. Auflage. Trafo, Berlin 2007, ISBN 978-3-89626-611-8.
  16. Cord Pagenstecher: Einführung. In: Liri Lubonja (Hrsg.): Abseits unter Menschen: Verbannt in Albanien 1973–1990. Metropol, Berlin 2024, ISBN 978-3-86331-738-6, S. 9 f. (unter Berufung auf Kastriot Dervishi (2015).).
  17. Alida Hisku, Annette Piechutta: Die Hofnärrin des Diktators. Parzellers, Fulda 2009, ISBN 978-3-7900-0414-4.
  18. Liri Lubonja: Abseits unter Menschen: Verbannt in Albanien 1973–1990. Hrsg.: Basil Schader. Metropol, Berlin 2024, ISBN 978-3-86331-738-6.
  19. Vladimir Balluku. In: kujto.al – Arkiva Online e Viktimave të Komunizmit në Shqipëri. 28. Dezember 2017, abgerufen am 14. September 2025 (albanisch).
  20. "Neni 55 i kohës së komunizmit ishte më i qartë se projekti i ri i Kodit Penal". In: Gazeta Tema. 1. August 2025, abgerufen am 18. August 2025 (albanisch).
  21. Ora News: Berisha: Rikthehet neni 55! Kodi i Ri Penal. PD kundër: Nuk do ta votojmë! auf YouTube, 28. Juli 2025, abgerufen am 18. August 2025 (albanisch).