Abstinenzbewegung (Schweden)
Die Abstinenzbewegung ist eine der drei großen schwedischen Volksbewegungen des 19. Jahrhunderts (folkrörelser).
Voraussetzungen
Um 1800 war der Alkoholismus ein bedeutendes Problem. Schnaps war das vorherrschende alkoholische Getränk, während Bier nur von untergeordneter Bedeutung war und Wein eigentlich nur in der Oberschicht getrunken wurde. Nachdem 1810 das Brennen von Branntwein gesetzlich freigegeben war, wuchs der Konsum noch einmal stark an. Schätzungen sprechen von einem durchschnittlichen Konsum von 40 Litern Schnaps pro Person und Jahr in den 1820er Jahren, was etwa das Fünffache des heutigen Konsums ist.
Der Alkoholkonsum schuf schwere soziale Probleme. Aber nicht nur soziale und ethische Aspekte bestimmten die Entstehung und Tätigkeit der Abstinenzbewegung, sondern auch politische, da der übermäßige Alkoholkonsum in den niedrigeren Gesellschaftsschichten destruktiv und passivierend wirkte.
Die Abstinenzbewegung ging zwar von christlichen Bewegungen aus, aber fand auch aktive Unterstützung durch Wissenschaftler, Ärzte und Politiker.
Erste Phase
Nachdem Kronprinz Karl XIV. Johann 1812 seine Betrübnis über den hohen Alkoholkonsum geäußert hatte, schrieb die kirchliche Gesellschaft Pro Fide et Christianismo im folgenden Jahr eine Preisaufgabe aus, die der Pfarrer Carl Emanuel Bexell gewann. Als Propst in Rydaholm gründete Bexell den ersten Abstinenzverein im Schweden, dessen Mitglieder sich zu absoluter Enthaltsamkeit von Schnaps oder andere Spirituosen verpflichteten. In den 1830er Jahren breitete sich die Bewegung weiter aus; weitere Schlüsselfiguren waren der Pfarrer Peter Wieselgren, der Unternehmer Samuel Owen und der Arzt Magnus Huss, der erstmals den Alkoholismus als Krankheit erkannte. 1837 wurde Svenska nykterhetssällskapet als landesweite Organisation gebildet, die 1847 100.000 Mitglieder hatte. Der mäßige Konsum von Bier und Wein war erlaubt, aber diese Getränke waren eigentlich nur in der Oberschicht verbreitet. Das Hauptziel der Bewegung war, das Schnapsbrennen für den Eigenbedarf abzuschaffen, und als sie ihre Ziele in den Gesetzen 1855 bzw. 1860 erreicht hatten, starb die Bewegung.
Zweite Phase
Während die ältere, moderate Abstinenzbewegung vor allem von Personen aus der Oberschicht getragen worden war, entstand in den 1870er Jahren eine neue, radikalere Volksbewegung, die große Teile der Bevölkerung umfasste. Sie hatte enge personelle Überschneidungen sowohl mit der freikirchlichen Erweckungsbewegung als auch mit der schwedischen Arbeiterbewegung nahe.
1879 wurde in Göteborg die erste Loge des aus Amerika kommenden Guttemplerordens (IOGT) gebildet. In den folgenden Jahren folgten weitere Organisationen wie der aus der Schweiz kommende Blåbandsförbund (1883, Teil des internationalen Blauen Kreuzes), der Templarorden (TO), die Frauenorganisation Vita Bandet (1897, 1900 Anschluss an die Woman’s Christian Temperance Union) u. a. Da diese Organisationen am Beginn religiösen Anstrich hatten, entstand 1896 eine konfessionslose Organisation (Verdandi), die der Sozialdemokratie nahestand.
Diese Organisationen forderten völlige Enthaltsamkeit von Alkohol und arbeiteten auf ein Totalverbot hin. Auf ihrem Höhepunkt um 1910 hatten die unterschiedlichen Organisationen etwa eine halbe Million Mitglieder. Dazu müssen aber noch die freikirchliche Erweckungsbewegungen und die Arbeiterbewegung gerechnet werden, die die Forderungen der Abstinenzbewegung unterstützten. In einer Unterschriftenaktion 1909 befürworteten 56 % der erwachsenen Bevölkerung ein Totalverbot.
Die Tätigkeit der Abstinenzbewegung beschränkte sich nicht nur auf die Alkoholpolitik. Die Organisationen betrieben Volksbildungseinrichtungen, waren in politischen Fragen wie der Wahlrechtsfrage äußerst aktiv und versuchten in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen ein alkoholfreies Gemeinschafts- und Freizeiterlebnis zu bieten.
Die Repräsentation der Abstinenzbewegung in der Politik war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerordentlich stark (vor allem innerhalb der liberalen und sozialdemokratischen Partei). 1918 gehörten 64 % aller Abgeordneten in der zweiten, volksgewählten Parlamentskammer einer Abstinenzorganisation an und auch heute noch haben die unterschiedlichen Organisationen mehr als 250.000 Mitglieder.
Literatur
- Oscar Mannström: Bilder och blad ur den svenska nykterhetsrörelsens historia. 1912.
- Svenska folkrörelser 1. Nykterhetsrörelse, Politisk arbetarrörelse, Fackföreningsrörelse, Folkbildning, Kooperation. Stockholm 1936.
- Kjell Östberg: Folk i rörelse: Vår demokratis historia. Ordfront 2012, S. 74 ff.
Weblinks
- Nykterhetsrörelsen auf der Website über Schwedens Folkrörelser
- Historia auf der Website der Svenska Sällskapet för Nykterhet och folkbildning
- JUNIS Schweden
- The Temperance Scouts Schweden
- UNF Schweden