72 Minuten bis zur Vernichtung

72 Minuten bis zur Vernichtung (vollständiger Titel: 72 Minuten bis zur Vernichtung: Atomkrieg – ein Szenario, englisch Nuclear War: A Scenario) ist ein 2024 erschienenes Buch der US-amerikanischen Schriftstellerin Annie Jacobsen. Es beschreibt den fiktiven Verlauf eines Atomkriegs, der vom Start der ersten nordkoreanischen Atomrakete bis zur praktisch kompletten Zerstörung der USA und eines großen Teils der restlichen Welt gerade mal die im deutschen Titel genannten 72 Minuten dauert.[Anm. 1] Obwohl Nordkorea nur wenige Atomwaffen einsetzt, führt dies in der Folge durch Automatismen und Missverständnisse zum fast völligen Aussterben der Menschheit und zur vollständigen Auslöschung unserer Zivilisation (Nuklearer Holocaust).
Entstehung
Jacobsen legte beim Schreiben ihres Buches großen Wert auf eine möglichst realistische Darstellung – einerseits der tatsächlichen Verfahrensabläufe, die für einen solchen Fall vorgesehen sind, andererseits der unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen eines Atomkriegs. Das konkrete Szenario ist zwar fiktiv, aber es „basiert auf Fakten. Sie stammen aus Exklusivinterviews mit Präsidentenberatern, Kabinettsmitgliedern, Atomwaffenentwicklern, Wissenschaftlern, Soldaten, Luftwaffenpiloten, Angehörigen von Spezialeinheiten, Geheimdienstmitarbeitern, Katastrophenschutzexperten, Geheimdienstanalysten, Staatsbediensteten und anderen“.[1] Diese Recherchen zogen sich über mehr als zehn Jahre hin.[2] Bei einigen der gesammelten Informationen war die Geheimhaltung erst kurz zuvor aufgehoben worden.[2][3]
Die Idee, den Krieg durch die völlig irrationale Entscheidung eines einzelnen Diktators beginnen zu lassen, die USA mit Atomwaffen anzugreifen, stammt nach Jacobsens Aussage von Richard Garwin. Der Experimantalphysiker, der entscheidend an der Entwicklung der ersten Wasserstoffbombe beteiligt war, bezeichnete dieses „Mad King“-Szenario als dasjenige, das ihm am meisten Sorgen mache.[4][5] Was genau den nordkoreanischen Diktator in diesem Szenario zu seinem Entschluss veranlasst hat, bleibt unklar, spielt jedoch auch keine wirkliche Rolle für die Handlung.
Der Angriff Nordkoreas trifft die USA in diesem Szenario völlig unerwartet „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“. Zu der anfänglichen Verwirrung bei den Amerikanern in diesem Buch trägt bei, dass die Nordkoreaner – im Gegensatz zu anderen Ländern – Teststarts von Raketen nicht ankündigen und es sich bei der georteten Rakete auch um eine Testrakete handeln könnte. Dies entspricht der Realität: Allein zwischen Januar 2022 und Mai 2023 führte Nordkorea rund 100 Raketentests durch, ohne auch nur einen davon vorher anzukündigen.[6] Dagegen haben die USA und Russland nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 entsprechende Tests komplett eingestellt, um keine Missverständnisse zu provozieren.[4][7]
Gliederung
- Anmerkung der Autorin
- Verzeichnis der Interviewpartner
- Hauptteil
- Prolog
- Teil I: Die Vorgeschichte (Oder: Wie wir hier gelandet sind)
- Teil II: Die ersten 24 Minuten
- Teil III: Die nächsten 24 Minuten
- Teil IV: Die nächsten (und letzten) 24 Minuten
- Teil V: Die nächsten 24 Monate und danach, oder: Was bleibt nach einem atomaren Schlagabtausch?
- Dank
- Abkürzungsverzeichnis
- Anmerkungen
- Index
Handlung
Prolog
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Im Prolog (Untertitel: Die Hölle auf Erden) schildert Jacobsen die Auswirkungen einer Kernwaffenexplosion mit einer Sprengkraft von einer Megatonne TNT-Äquivalent über Washington, D.C. in den ersten Sekunden und Minuten.
Die Vorgeschichte (Teil I)
Dieser Teil des Buches besteht aus insgesamt vier Kapiteln:
- In Kapitel 1 beschreibt Jacobsen ein Treffen einer Reihe von amerikanischen Militärbeamten (darunter der damalige Verteidigungsminister Thomas S. Gates) im Hauptquartier des Strategic Air Command im Jahr 1960. Hier wurde den Teilnehmern erstmals der neu entwickelte Single Integrated Operational Plan (siehe Kapitel 4) vorgestellt. Dieses sowie das vierte Kapitel beruhen im Wesentlichen auf einem Bericht eines der damaligen Teilnehmer namens John H. Rubel.
- Im zweiten Kapitel werden die Erlebnisse mehrerer Überlebender des Atombombenabwurfs auf Hiroshima geschildert, darunter ein dreizehnjähriges Mädchen.
- Kapitel 3 beschreibt die Entwicklung der amerikanischen Nuklearrüstung von der Operation Crossroads über die erste Wasserstoffbombe Ivy Mike bis hin zum bisherigen Höchststand von 31.255 Atomsprengsätzen im Jahr 1967.
- Im vierten Kapitel wird der Single Integrated Operational Plan (SIOP) näher dargestellt. Bis Dezember 1960 hatte jede der drei amerikanischen Teilstreitkräfte U.S. Army, United States Air Force und United States Navy ihr eigenes Atomwaffenarsenal und eigene Ziellisten. Mit dem SIOP wurde erstmals ein einheitlicher Plan für den Atomkrieg geschaffen. Der (inzwischen mehrfach überarbeitete und umbenannte) SIOP sah einen präventiven Erstschlag mit einem massiven Einsatz amerikanischer Atomwaffen gegen Ziele in der Sowjetunion vor. Dabei wären den Berechnungen zufolge etwa 600 Millionen Menschen sofort oder durch den radioaktiven Niederschlag gestorben, davon etwa die Hälfte in den Nachbarländern der Sowjetunion, die gar nicht direkt am Krieg beteiligt gewesen wären (darunter bis zu 300 Millionen Chinesen). In diesen Zahlen waren die amerikanischen Todesopfer durch einen wahrscheinlichen sowjetischen Vergeltungsschlag sowie die durch nachfolgende Hungersnöte umgekommenen Menschen noch gar nicht enthalten. Einen ähnlichen Plan gab es auch für den Fall eines Atomkriegs gegen China.
Der eigentliche Atomkrieg (Teil II bis IV)
Die Teile II bis IV des Buches sind in kurze Abschnitte unterteilt, die chronologisch geordnet sind. Sie tragen als Überschrift lediglich die Zeit, die seit dem Abschuss der ersten Rakete vergangen ist, und den Ort der Geschehnisse. Die Zählung beginnt an einem 30. März um 4:03 Uhr morgens Ortszeit (15:03 Uhr Ortszeit in Washington, D.C.), als eine Interkontinentalrakete vom Typ Hwasong-17 etwa 36 Kilometer außerhalb von Pjöngjang von ihrer fahrbaren Startrampe abhebt.
Vier Zehntelsekunden später wird der Start von einem Satelliten des amerikanischen SBIRS-Systems registriert. Nach wenigen Sekunden wird in den Bodenstationen des National Reconnaissance Office Alarm ausgelöst und Meldungen an das Missile Warning Center im Cheyenne Mountain, das National Military Command Center im Pentagon und die Offutt Air Force Base geschickt, ebenso an NORAD, NORTHCOM und STRATCOM.
Nach etwa zwei Minuten ist aufgrund der Auswertung der Flugdaten klar, dass sich die Rakete im Anflug auf die Ostküste der USA befindet.
Nach gut drei Minuten wird der US-Präsident informiert.
Sieben Minuten nach dem Start der Hwasong-17 wird von Fort Greely aus die erste von vier Abfangraketen gestartet. Ihre Zieldaten erhalten sie vom Sea-Based X-Band Radar im Nordpazifik. Kurze Zeit später wird klar, dass alle vier Abfangversuche gescheitert sind.
Nach 9 Minuten Flugzeit wird die nordkoreanische Rakete vom Long Range Discrimination Radar auf der Clear Space Force Station in Alaska erfasst.
10 Minuten nach dem Abschuss wird der Präsident im Presidential Emergency Operations Center (PEOC) von seinen Beratern gebrieft, welche Möglichkeiten er für einen nuklearen Gegenschlag hat, also welche Atomwaffen gegen welche Ziele eingesetzt werden sollen und wie viele Tote dadurch zu erwarten sind. Ab diesem Zeitpunkt hat der Präsident laut Jacobsen nur sechs Minuten Zeit für seine Entscheidung.[5][Anm. 2]
16 Minuten nach dem Start der ersten Rakete melden die Sensoren der amerikanischen Satelliten den Start einer zweiten Rakete, die von einem U-Boot etwa 550 Kilometer vor der kalifornischen Küste aus abgefeuert wurde. Nach nur 6 Minuten Flugzeit explodiert sie über dem Kernkraftwerk Diablo Canyon an der südkalifornischen Pazifikküste. Die Zahl der Todesopfer durch die eigentliche Explosion ist vergleichsweise gering, aber durch die bodennahe Explosion, die Kernschmelze in den beiden Reaktorblöcken sowie durch die Zerstörung von 2500 auf dem Gelände zwischengelagerten abgebrannten Brennelementen werden große Teile von Kalifornien und Nevada radioaktiv verseucht (aus diesem Grund sind Angriffe auf Kernkraftwerke gemäß Artikel 15 des Zusatzprotokolls II von 1977 zur Genfer Konvention grundsätzlich verboten, selbst wenn es sich um militärische Ziele handelt).
Etwa zur gleichen Zeit ergibt die Auswertung der Flugdaten der ersten Rakete, dass deren Ziel entweder das Pentagon oder das Weiße Haus ist. Es handelt sich also um den Versuch eines Enthauptungsschlags.
Nach 23 Minuten gibt der Präsident, der inzwischen im Hubschrauber Marine One sitzt, um evakuiert zu werden, den Befehl zu einem nuklearen Gegenschlag. 50 landgestützte Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman III mit je einem Sprengkopf und acht SLBMs vom Typ Trident mit je vier Sprengköpfen, zusammen also 82 Sprengköpfe, sollen auf Ziele in Nordkorea abgefeuert werden. Eine Minute später verlassen die ersten Minuteman-Raketen ihre Startsilos. Damit sind die ersten 24 Minuten des Szenarios vorbei.
Nach 33 Minuten Flugzeit explodiert der zuerst abgefeuerte Sprengkopf über dem Pentagon. Der Hubschrauber stürzt ab. Der Präsident ist kurz zuvor zusammen mit einem Agenten des Secret Service per Fallschirm abgesprungen. Bei der Landung in einem Wald in Maryland bricht sich der Agent das Genick. Der Präsident wird verletzt, ist handlungsunfähig und spielt für den weiteren Verlauf der Ereignisse keine aktive Rolle mehr. Da nicht nur er selbst, sondern auch mehrere der gesetzlich vorgesehenen Nachrücker als vermisst gelten, stellt sich die Frage, wer das Amt des Präsidenten kommissarisch übernehmen soll.
Sowohl russische Spione in den USA als auch russische Frühwarnsatelliten des Typs Tundra haben die Starts der amerikanischen Minuteman-Raketen registriert. Deren Flugbahn nach Nordkorea führt direkt über Russland. Durch die Ungenauigkeit dieser Satelliten erscheinen die 50 amerikanischen Raketen jedoch wie 100. Amerikanische Versuche, Kontakt mit dem Präsidenten Russlands aufzunehmen, schlagen fehl, da dieser nur mit dem amerikanischen Präsidenten selbst sprechen will. Da der russische Präsident glaubt, die amerikanischen Raketen würden auf sein Land zielen, entschließt er sich zum (vermeintlichen) Gegenschlag. 45 Minuten nach dem Start der ersten nordkoreanischen Rakete verlassen hunderte russische Interkontinentalraketen ihre Startsilos, was praktisch sofort von den amerikanischen Satelliten registriert wird. Minuten später feuern auch die russischen U-Boote ihre Raketen ab. Damit sind auch die zweiten 24 Minuten des Szenarios vorüber.
Kurze Zeit später befiehlt der frühere amerikanische Verteidigungsminister, der durch den Atomblitz geblendet wurde und inzwischen als amtierender Präsident vereidigt worden ist, einen massiven Gegenschlag gegen Russland. Der STRATCOM-Commander an Bord seines Doomsday Plane gibt die Einsatzbefehle weiter. Innerhalb weniger Minuten starten weitere 350 Minuteman-Raketen. Auch die U-Boote mit ballistischen Raketen, die amerikanischen strategischen Bomber sowie – im Rahmen der nukleare Teilhabe – die Flugzeuge weiterer NATO-Staaten erhalten den Befehl zum Angriff auf insgesamt 975 Ziele in ganz Russland.
52 Minuten nach Beginn der Ereignisse explodieren die ersten amerikanischen Atomsprengköpfe über ihren Zielen in Nordkorea, darunter militärischen und nuklearen Einrichtungen, der Hauptstadt Pjöngjang und den Residenzen des nordkoreanischen Staatsführers. Viele Millionen Menschen sterben. Da einige der Ziele weniger als 50 Kilometer von der Grenze zur Volksrepublik China entfernt sind, ist auch dort mit zahlreichen Opfern durch den radioaktiven Fallout zu rechnen.

Der „Oberste Führer“ Nordkoreas hat den Atomschlag jedoch in einem Bunker unter dem Paektusan überlebt. Bereits 11 Minuten vorher hat Nordkorea eine dritte Interkontinentalrakete gestartet, diesmal wieder von Land aus. Kurz nach dem Einschlag der amerikanischen Sprengköpfe werden nun auf seinen Befehl hin mehrere Dutzend Kurzstreckenraketen vom Typ Hwasong 9 gestartet, die als Ziel zwei Luftwaffenstützpunkte in Südkorea sowie das Stadtzentrum von Seoul haben. Gleichzeitig werden über zehntausend Artilleriegranaten sowie Raketen des Kalibers 240 mm auf Ziele in Südkorea abgeschossen. Alle diese Waffen sind mit chemischen Kampfstoffen gefüllt. Die Abfangraketen des amerikanischen THAAD-Systems sind aufgrund der schieren Menge der anfliegenden Ziele überfordert.
Schon ein Jahrzehnt vor den Ereignissen in diesem Szenario wurde im Westen ein Satellitenbild veröffentlicht, das Korea bei Nacht zeigt. Die Grenze zwischen dem hell erleuchteten Süden und dem dunklen Norden war klar zu erkennen. Der „Oberste Führer“ Nordkoreas fühlte sich durch diese Darstellung der technologischen Rückständigkeit seines Landes tief gekränkt und will nun die USA in den gleichen „elektrizitätslosen“ Zustand versetzen. Schon Jahre zuvor hatte Nordkorea an Bord eines Satelliten eine kleine Atombombe in eine Erdumlaufbahn gebracht.
55 Minuten nach dem Start der ersten Interkontinentalrakete explodiert diese kleine Atombombe nun 480 Kilometer über Omaha. Durch den elektromagnetischen Impuls wird ein großer Teil der elektronischen Geräte auf dem nordamerikanischen Kontinent zerstört. Autos bleiben einfach stehen oder verunglücken, Flugzeuge stürzen ab, Telekommunikationsnetze brechen zusammen, die Steuerungen von Kraftwerken, Erdölraffinerien, Chemiefabriken sowie der Wasserversorgung versagen und Aufzüge bleiben stecken. Die Folgen sind katastrophal.
Nach 57 Minuten trifft die erste von 192 russischen SLBMs ihr Ziel in den USA. In den nächsten Minuten explodieren weitere 1000 russische Atomsprengköpfe über den Vereinigten Staaten und ganz Europa. Die dritte von Nordkorea abgefeuerte Rakete versagt beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.
Ausblick auf die Zukunft (Teil V)
„Die Überlebenden werden die Toten beneiden.“
Die durch die Atomexplosionen ausgelösten gewaltigen Brände in Städten und Wäldern wüten teilweise noch monatelang. Sie töten nicht nur zahlreiche Menschen, die den Explosionen selbst zunächst entkommen sind, sondern befördern auch etwa 150 Millionen Tonnen Ruß in die obere Troposphäre und Stratosphäre. Die Folge ist ein Nuklearer Winter. Die weltweite Durchschnittstemperatur sinkt um etwa 15 Grad Celsius, in den USA sogar um 22 Grad. Landwirtschaft wird in weiten Teilen der Nordhalbkugel unmöglich. Pflanzen sterben ab, die natürlichen Nahrungsketten brechen zusammen. Bis auf kleine Gebiete auf der Südhalbkugel kommt es weltweit zu einer Hungersnot. In der Folge sterben weitere Millionen Menschen, die nicht durch die Explosionen selbst, durch Feuer oder Strahlenkrankheit umgekommen sind. Außerdem frieren die meisten oberirdischen Süßwasservorkommen zu, sofern sie nicht sowieso verseucht sind.
Als sich nach vielen Monaten die Temperaturen endlich wieder normalisieren, kommt es zu Epidemien aufgrund der auftauenden Leichen und Tierkadaver. Außerdem haben die riesigen Mengen an Stickoxiden, die durch die Explosionen und die Brände freigesetzt wurden, die Ozonschicht weitgehend zerstört, was zu einem massiven Anstieg schädlicher UV-Strahlung führt.
Die wenigen Menschen, die jetzt noch leben, sind durch die Strahlung in ihrem Erbgut geschädigt. Die Zivilisation ist zusammengebrochen, fast das gesamte Wissen der Menschheit verloren. Im Kampf um die wenigen noch verbliebenen Ressourcen gilt das Recht des Stärkeren. Die Menschheit ist auf das Niveau steinzeitlicher Jäger und Sammler zurückgeworfen. Kleine Gruppen von Überlebenden betreiben Inzucht. Ob die Menschheit langfristig überhaupt überlebt, bleibt offen.
Nach etwa 24.000 Jahren hat sich die Erde vom Atomkrieg erholt. Temperaturen, UV-Strahlen und Radioaktivität haben sich normalisiert. Die verbrannten und verseuchten Böden sind wieder fruchtbar, neue Arten haben sich entwickelt. Jacobsen stellt zum Schluss die Frage, welche Spuren die Menschen (sofern es noch welche gibt) dann noch von ihren Vorfahren aus dem 21. Jahrhundert entdecken könnten. Zum Vergleich zieht sie die Fundstätte Göbekli Tepe in der Türkei heran, wo die derzeit ältesten bekannten Großbauten der Menschheit entdeckt wurden – mit etwa 12.000 Jahren gerade mal halb so alt wie die erwähnten 24.000 Jahre.
„Geschichtsstunden“

In die laufende Handlung hat Jacobsen insgesamt neun kurze Einschübe eingefügt, die mit „Geschichtsstunde“ + fortlaufender Nummer überschrieben sind. Hier geht Jacobsen näher auf spezielle Themen ein, die mit dem Ablauf der Ereignisse im Buch in Verbindung stehen:
- Das Prinzip der Abschreckung
- Die ICBM
- Launch on warning, eine bis heute gültige Strategie, nach der die USA ihre Atomwaffen bereits einsetzen, wenn sie von einem Angriff auf sich erfahren (z. B. durch Frühwarnsysteme) – auch wenn noch keine einzige Atomwaffe auf dem Gebiet der USA explodiert ist und es ggf. unklar ist, ob anfliegende Raketen überhaupt Atomsprengköpfe tragen.[6] Dazu wird ein Teil der amerikanischen Nuklearwaffen ständig im Zustand des Hair-Trigger Alert gehalten, ist also rund um die Uhr einsatzbereit.
- Die Abschusssysteme der ICBM
- Der Football des Präsidenten
- Atom-U-Boote
- Proud Prophet, ein militärisches Planspiel, das 1983 in Washington stattfand. Dabei endeten alle durchgespielten Szenarien gleich, unabhängig von der Ausgangslage: Sobald eine Atomwaffe zum Einsatz kam, führten die sich aufschaukelnden Reaktionen unweigerlich zur nuklearen Apokalypse.
- Die Strahlenkrankheit, insbesondere der Tod des Physikers Louis Slotin
- In der neunten und letzten „Geschichtsstunde“ stellt Jacobsen eine eher philosophische Überlegung an. Zunächst verweist sie auf einen Artikel in der Zeitschrift Foreign Policy aus dem Jahr 1975, dessen Autor die Teilnehmer am internationalen Wettrüsten mit Affen auf einem Laufband verglichen hatte. Dann leitet sie über auf einen Artikel in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy aus dem Jahr 2007, in dem Untersuchungen zum Energiebedarf beim vierbeinigen und beim zweibeinigen Gang präsentiert wurden. Die Forscher hatten dazu Experimente mit Menschen und Schimpansen auf einem Laufband durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Affen, wenn sie keine Lust mehr hatten, einfach vom Laufband absprangen oder es sogar abschalteten. Jacobsen schließt mit der Frage: „Wenn die Affen wissen, wie man das Laufband verlässt – warum wissen wir es nicht?“[9]
Rezeption
Nuclear War: A Scenario schaffte es sowohl auf die Bestsellerliste der New York Times, wo das Buch den vierten Platz erreichte,[10] als auch auf diejenigen der Los Angeles Times[11], der Sunday Times und des Spiegel.
2024 wurde Jacobsen für Nuclear War: A Scenario für den Baillie Gifford Prize nominiert und schaffte es bis auf die Shortlist.[12] Bei der Verleihung des Dayton Literary Peace Prize schaffte sie es in der Kategorie Nonfiction ebenfalls unter die Finalisten, die Verleihung wird voraussichtlich Anfang November 2025 stattfinden.[13]
Der Vorwärts bezeichnete das Buch als „schwer erträglich“, aber auch als „fulminantes Buch, um sich zu sorgen und um zu lernen, die Bombe zu hassen“.[14]
Forbes forderte, Nuclear War: A Scenario solle Pflichtlektüre für jeden heute lebenden Menschen sein, „insbesondere für die Politiker und Entscheidungsträger, die das unsichere Schicksal unserer Spezies buchstäblich in ihren Händen halten“.[15]
Das Parlament schrieb von einer „überzeugenden Rechercheleistung“ und hob hervor: „Besonders beeindruckt die Unausweichlichkeit, mit der Jacobsen das Wechselspiel aus Fehlwahrnehmungen, knappen Entscheidungsspielräumen und Zeitfenstern beschreibt.“[16]
Der Sicherheitsexperte Liviu Horovitz von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin beurteilte das im Buch geschilderte Szenario als „möglich, aber extrem unwahrscheinlich. Es müssten schon ziemlich viele Fehler gleichzeitig passieren“. Allerdings finde auch er die kurzen Reaktionszeiten „beunruhigend“.[6]
Der langjährige Verteidigungsberater Peter Huessy warf Jacobsen vor, eine „Vorliebe für die falsche Kontextualisierung der Aussagen ihrer Interviewpartner“ zu haben. Sie scheine „nicht zu begreifen, dass sie oder ihre Interviewpartner über die Relevanz ihrer früheren Erfahrungen für die Gegenwart falsch liegen könnten“. Die US-Atomwaffen seien nicht auf hair trigger alert, die USA hätten keine Launch-on-warning-Doktrin, Kriegsspiele seien keine Vorhersagen für die Zukunft und die amerikanische Raketenabwehr sei weit effektiver, als Jacobsen bzw. ihre Informanten behaupteten. Die Titel „Atomkrieg – Ein Roman“ oder „Atomkrieg – Abrüstungspropaganda“ wären für Jacobsens Buch wesentlich passender gewesen.[17]
Verfilmung
Anfang April 2024 wurde bekannt, dass sich Legendary Entertainment die Filmrechte an Jacobsens Buch gesichert hat. Als Regisseur ist Denis Villeneuve vorgesehen.[4][11][18][19]
Ausgaben (Auswahl)
- Annie Jacobsen: Nuclear War: A Scenario, Torva (Imprint von Penguin Random House), 2024, ISBN 978-1-911709-59-6
- Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung: Atomkrieg – ein Szenario (übersetzt von Oliver Lingner und Ulrike Strerath-Bolz), Heyne Verlag, München 2024, ISBN 978-3-453-21878-9
Daneben erschien das Buch auch auf Chinesisch[20], Französisch[21], Hebräisch[22], Italienisch[23], Koreanisch[24], Niederländisch[25], Polnisch[26], Portugiesisch[27], Russisch[28] und Spanisch.[29]
Weblinks
- Only 72 Minutes To Destroy Life On Earth. Annie Jacobsen On Nuclear War (Interview mit Annie Jacobsen) auf YouTube (englisch)
Einzelnachweise
- ↑ Annie Jacobsen: Anmerkung der Autorin in: 72 Minuten bis zur Vernichtung: Atomkrieg – ein Szenario, Heyne Verlag, München 2024, ISBN 978-3-453-21878-9, S. 11
- ↑ a b This Reporter Can Tell Us What Nuclear Apocalypse Looks Like auf www.nytimes.com, 8. August 2025
- ↑ Omar L. Gallaga: ‘Fallout’ is fun, but the reality of a postnuclear apocalypse is nightmare fuel auf www.latimes.com, 9. Mai 2024
- ↑ a b c Sassan Niasseri: Investigativ-Journalistin Annie Jacobsen: „Wir müssen mit Kim Jong-un reden“ auf www.rollingstone.de, 16. Februar 2025
- ↑ a b Michael Mechanic: An interview with Annie Jacobsen, author of ‘Nuclear War: A Scenario’ auf thebuletin.org, 1. April 2024
- ↑ a b c Olaf Stampf: Noch 72 Minuten bis zum Weltuntergang in: Der Spiegel Nr. 16, 13. April 2024
- ↑ Sassan Niasseri: DEFCON 1: Die Geschichte des Atombombenkinos, Schüren, Marburg 2025, ISBN 978-3-7410-0496-4, S. 198
- ↑ Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung: Atomkrieg – ein Szenario, Heyne Verlag, München 2024, ISBN 978-3453218789, S. 135+313
- ↑ Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung: Atomkrieg – ein Szenario, Heyne Verlag, München 2024, ISBN 978-3-453-21878-9, S. 306
- ↑ April 21, 2024 Combined Print & E-Book Nonfiction auf https://www.nytimes.com/, abgerufen am 7. September 2025
- ↑ a b Drew Taylor: ‘Dune’ Director Denis Villeneuve Reteams With Legendary on ‘Nuclear War: A Scenario’ auf www.thewrap.com, 4. April 2024
- ↑ Richard Flanagan’s Question 7 wins The Baillie Gifford Prize for Non-Fiction 2024 auf www.thebailliegiffordprize.co.uk, 19. November 2024
- ↑ 2025 Finalists auf www.daytonliterarypeaceprize.org, abgerufen am 7. September 2025
- ↑ Michael Bröning: „Nuclear War. A Scenario.” Ein Buch, um zu lernen, die Bombe zu hassen auf www.vorwaerts.de, 25. Dezember 2024
- ↑ Josh Weiss: Review: Annie Jacobsen’s ‘Nuclear War: A Scenario’ Will Make You Start Worrying And Hate The Bomb auf www.forbes.com, 30. März 2024
- ↑ Alexander Heinrich: Der Ritt ins Armageddon auf www.das-parlament.de, 16. Juni 2024
- ↑ Peter Huessy: Annie Jacobsen Gets It Wrong about Nuclear Deterrence auf www.globalsecurityreview.com, abgerufen am 15. Juni 2025
- ↑ Sassan Niasseri: DEFCON 1: Die Geschichte des Atombombenkinos, Schüren, Marburg 2025, ISBN 978-3-7410-0496-4, S. 196
- ↑ Mike Fleming Jr.: Legendary, ‘Dune’ Helmer Denis Villeneuve Re-Team On ‘Nuclear War: A Scenario’ auf deadline.com, 4. April 2024
- ↑ Annie Jacobsen: 核戰末日:我們與世界毀滅的距離, Time Publishing, Taipeh 2024, ISBN 978-626396775-5
- ↑ Annie Jacobsen: Guerre nucléaire: Un scénario, Denoë, Paris 2024, ISBN 978-2-207-18087-7
- ↑ Annie Jacobsen: מלחמה גרעינית: תרחיש, Kinneret Zmora, Tel Aviv 2024, ISBN 978-965-574-790-4
- ↑ Annie Jacobsen: Guerra nucleare. Uno scenario, Mondadori, Mailand 2025, ISBN 978-88-04-78721-1
- ↑ Annie Jacobsen: 핵전쟁, Munhakdongne, Seoul 2025, ISBN 979-11-416-0894-1
- ↑ Annie Jacobsen: Kernoorlog: het scenario, Prometheus, Amsterdam 2024, ISBN 978-90-446-5560-5
- ↑ Annie Jacobsen: Wojna nuklearna. Możliwy scenariusz, Insignis, Warschau 2024, ISBN 978-83-68053-69-2
- ↑ Annie Jacobsen: Guerra nuclear: Um cenário, Dom Quixote, Lissabon 2024, ISBN 978-972-20-8467-3
- ↑ Annie Jacobsen: Ядерная война. Сценарий, Fortis Press, Jerewan, ISBN 978-9939-9340-2-0
- ↑ Annie Jacobsen: Guerra nuclear: Un escenario, Debate, Madrid 2025, ISBN 978-84-10-21450-7
Anmerkungen
- ↑ Die Aufteilung in genau 3x24=72 Minuten wurde offenbar aus dramaturgischen Gründen gewählt. Tatsächlich weicht die im Buch beschriebene Handlung etwas davon ab. So schreibt Jacobsen etwa auf Seite 311 (der deutschen Ausgabe), dass „in Minute 72“ des geschilderten Krieges „über einen Zeitraum von 20 Minuten“ 1000 russische Atomsprengköpfe detonieren, was in sich schon widersprüchlich ist.
- ↑ Jacobsen beruft sich bei dieser Darstellung auf den Atomwaffenexpterten Bruce Blair und den Journalisten David E. Hoffman. Im dargestellten Szenario wird diese Entscheidung jedoch verzögert und der Einsatzbefehl erst dreizehn Minuten nach Beginn des Briefings erteilt.